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Fall Kiesewetter: Als ein NSU-Mord Heilbronn veränderte

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Im Jahr 2011 starben die NSU-Täter Mundlos und Böhnhardt. 2007 hatten sie in Heilbronn die Polizistin Kiesewetter ermordet. Die Landtagsabgeordneten Weinmann und Bay fordern weiterhin entschiedenes Vorgehen gegen Rechts.

Von dpa und unserer Redaktion
Spurensicherung an der Theresienwiese in Heilbronn. Foto: dpa
Spurensicherung an der Theresienwiese in Heilbronn. Foto: dpa  Foto: Bernd Weissbrod

Die Polizistin Michèle Kiesewetter und ihr Kollege Martin A. machen Mittagspause. Es ist der 25. April 2007. Die Beamten stellen ihren Streifenwagen am Rande der Theresienwiese in Heilbronn ab. Dann Schüsse. Wohl ohne Vorwarnung schießen ihnen Terroristen von hinten in den Kopf.

Sie nehmen Dienstwaffen und Handschellen mit. Michèle Kiesewetter (22) stirbt noch am Tatort. Martin A., damals 24, überlebt schwer verletzt. Er will sich aktuell nicht äußern. Es heißt, er habe keine Erinnerung an die Tat. Es ist der wohl rätselhafteste Mord des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU).

 

 

In Heilbronn hat der Kiesewetter-Mord tiefe Spuren hinterlassen

In Heilbronn hat der Anschlag tiefe Spuren hinterlassen. "Der Mord hat die Stadt nachhaltig verändert", sagt Heilbronns Oberbürgermeister Harry Mergel. "Er war eines der gravierendsten Ereignisse der letzten Jahre und ein traumatisches Erlebnis, das die Stadt und das Sicherheitsgefühl lange beeinflusst hat. Da es bis heute keine Erklärung dafür gibt, warum der Mord ausgerechnet in Heilbronn geschah, gibt der Fall bis heute Anlass für Spekulationen und Legendenbildung."

Die Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt - die sich vor zehn Jahren am 4. November 2011 das Leben nahmen, um einer Festnahme zu entgehen - hatten über Jahre hinweg acht türkischstämmige und einen griechischstämmigen Kleinunternehmer sowie Kiesewetter ermordet. Ihre Komplizin Beate Zschäpe wurde vom Oberlandesgericht München als Mittäterin zu lebenslanger Haft bei besonderer Schwere der Schuld verurteilt. Im September verwarf der Bundesgerichtshof in Karlsruhe ihre Revision. Damit ist Zschäpe auch für den Mord an Kiesewetter rechtskräftig verurteilt.

 

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Eine Stadt im Ausnahmezustand. Es ist, als ob alles Alltägliche stehen geblieben wäre und sich nur noch die Polizei bewegt. In der Fußgängerzone halten die Menschen an und sehen hinauf zu den Polizeihubschraubern, die den ganzen Tag kreisen. Am Bahnhof und anderswo muss die Polizei den Verkehr nicht erst stoppen, um Autos zu durchsuchen: Der Verkehr ist zusammengebrochen, alles steht. >>Hier weiterlesen ...

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Vorwürfe an die Ermittler

Viele Hinterbliebene beklagen immer noch, dass die Behörden frühe Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund nicht ernst genommen hätten. Semiya Simsek, Tochter von Enver Simsek - dem ersten Opfer des NSU - sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Der NSU hatte Helfershelfer. Wir wissen, dass es sie gibt. Gegen diese wird sehr wenig ermittelt. Deutschland tut so, als würde der NSU nur aus drei Menschen bestehen. Deutschland tut so, als hätte es kein Problem mit Rechts." Die heute 35-Jährige hatte Deutschland nach dem Mord an ihrem Vater den Rücken gekehrt. Sie lebt nun in der Türkei.

"Der Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU muss uns Mahnung und Lehre sein, uns fortwährend jeglicher Form von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus entschieden entgegenzustellen." Diesen Appell richten die beiden Heilbronner Landtagsabgeordneten Susanne Bay (Grüne) und Nico Weinmann (FDP) an Bürger und Politik. Beide waren im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags mit der Aufarbeitung der Hintergründe der NSU-Morde engagiert.


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Der Tatort des Polizistenmordes auf der Theresienwiese im April 2007. Foto: dpa
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Was wussten die Sicherheitsbehörden?


Der baden-württembergische Landtag hatte sich nämlich in zwei Untersuchungsausschüssen mit dem NSU und Rechtsterrorismus im Südwesten befasst. Grüne, CDU, SPD und FDP hatten keine Zweifel daran, dass Böhnhardt und Mundlos die Polizistin ermordeten. Der zweite Ausschuss hatte unter anderem empfohlen, dass die Internetbearbeitung massiv intensiviert wird. Im Landesamt für Verfassungsschutz ist deshalb ein eigenständiges Referat geschaffen worden, das sich ausschließlich um die Beobachtung rechtsextremistischer Bestrebungen im Netz kümmert.

Frank Dittrich, seit Oktober 2020 Leiter der eigenständigen Abteilung Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus, Reichsbürger und Selbstverwalter in der Stuttgarter Behörde sagt, der Rechtsextremismus habe sich seit dem Auffliegen der NSU-Terroristen vor zehn Jahren massiv verändert. "Die Vorstellung eines Rechten in Springerstiefeln und mit Glatzkopf gehört der Vergangenheit an. Es gibt kein typisches Erscheinungsbild, so wie wir das früher hatten, wo man den Neonazi noch vom Skinhead unterscheiden konnte."


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ARCHIV - 20.07.2016, Bayern, München: Die als Mittäterin bei den Verbrechen der rechtsextremen Terrorzelle «Nationalsozialistischer Untergrund» (NSU) angeklagte Beate Zschäpe sitzt im Gerichtssaal im Oberlandesgericht. Gut drei Jahre nach der Urteilsverkündung im NSU-Prozess äußert sich der Bundesgerichtshof (BGH) am 19. August zu den eingelegten Revisionen. Foto: picture alliance / dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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NSU-Terroristin Zschäpe auch für Kiesewetter-Mord in Heilbronn rechtskräftig verurteilt


Bay und Weinmann fordern entschlossenes Vorgehen gegen Rechts

Gerade um Heilbronn herum gebe es seit den 1990er Jahren eine durchaus aktive, gut vernetzte rechtsextremistische Szene, die die offene, liberale Gesellschaft schwächen wolle, betont Susanne Bay. Für ein entschlossenes Vorgehen gegen Rechts benötige es "einen wehrhaften Staat und eine menschenrechtsorientierte Alltagskultur".

Nico Weinmann sieht im Rechtsextremismus "nach wie vor eine der größten Gefahren für unsere Demokratie". Bei Hass und Hetze "dürfen wir nicht länger wegschauen".


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Blick auf den Tatort in Heilbronn, an dem im Jahr 2007 die Polizistin Kiesewetter Opfer eines NSU-Mordes wurde. Foto: Christoph Schmidt/Archiv
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Stuttgart/Heilbronn
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NSU-Ausschuss: Fragen bleiben im Fall Kiesewetter


Rätsel um den Mord an der Theresienwiese - Zufallsopfer?

Der Mord an Kiesewetter ist deshalb so rätselhaft, weil er nicht ins Muster der fremdenfeindlichen NSU-Anschläge passt. Kiesewetter stammte aus Thüringen, sie ging in Oberweißbach zur Grundschule. Es gab Berichte über angebliche Verbindungen des Neonazi-Trios nach Oberweißbach. Laut Bundeskriminalamt gibt es aber keine Hinweise auf eine "wie auch immer geartete" Vorbeziehung zwischen Kiesewetter und den mutmaßlichen Terroristen.

Der frühere Bundestagsabgeordnete Clemens Binninger (CDU) hatte da so seine Zweifel: "Wie groß muss der Zufall sein, dass bei einer zufällig ausgewählten Streife aus 230 000 Polizisten in Deutschland das Opfer aus Oberweißbach (Thüringen) kommt, der Patenonkel selber bei der Polizei ist, Ende der 90er Jahre beim Staatsschutz war, dort dienstlich mit dem rechtsradikalen Thüringer Heimatschutz zu tun hatte - dem Verbund, aus dem das NSU-Trio in Jena hervorgegangen ist?", sagte er einmal.


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Am 25. April 2007 hatten skrupellose Täter die Polizeibeamten Michele Kiesewetter und Martin A. in den Kopf geschossen, als diese im Streifenwagen auf der Heilbronner Theresienwiese gerade bei geöffneten Fenstern Pause machten. Foto: Archiv/HSt
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München/Heilbronn
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Zschäpes unglaubliche Erklärung zum Heilbronner Polizistenmordfall


Die Bundesanwaltschaft hält Kiesewetter und Martin A. für "Zufallsopfer" - die Terroristen hätten sie angegriffen, weil sie als Polizisten für den von ihnen verhassten Staat standen.

"Ich bin allen möglichen und unmöglichen Spuren nachgegangen", sagte auch Anwältin Birgit Wolf. Sie vertrat die Mutter der Ermordeten Kiesewetter im Münchner Prozess. "Es gab alle möglichen Aussagen. Wenn man das kritisch betrachtet, gibt es jedoch keine Anhaltspunkte, dass weitere Täter an dem Mord beteiligt waren."

Die frühere Obfrau der Grünen im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages, Irene Mihalic, sagt: "Die massiven Ermittlungsfehler und der mangelnde Aufklärungswille in deutschen Sicherheitsbehörden hat das Vertrauen zahlreicher Menschen mit Migrationsgeschichte in die Sicherheitsbehörden nachhaltig geschwächt." 

 
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