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Interview
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"Es gibt Menschen, die die Hilfe nicht würdigen"

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Als Helfer vor Ort erlebt Jens Kuder aus Untergruppenbach grausame Situationen. Trotzdem reanimiert er immer wieder ehrenamtlich Menschen. Warum er sich fast jeden zweiten Tag aufrafft, um anderen zu helfen.

Von Christine Faget
Mit einer Puppe übt Jens Kuder den Ernstfall. Im Schnitt bricht er jeden zweiten Tag plötzlich auf, um Menschen in Notsituationen zu helfen.
 Foto: Dennis Mugler
Mit einer Puppe übt Jens Kuder den Ernstfall. Im Schnitt bricht er jeden zweiten Tag plötzlich auf, um Menschen in Notsituationen zu helfen. Foto: Dennis Mugler  Foto: Mugler, Dennis

Eigentlich war Jens Kuder um 18.30 Uhr in seinem Untergruppenbacher Zuhause zum Interview verabredet. Doch kurz vorher vibrierte der digitale Meldeempfänger, den er als freiwilliger Helfer vor Ort stets bei sich trägt. Immer, wenn ein Krankenwagen mit Blaulicht Richtung Untergruppenbach rast, wird er von der Leitstelle mit informiert.

Dieses Mal zeigte der Melder: Ein Unfall. Also eilte Kuder mitsamt Erste-Hilfe-Koffer los. Durch den Heimvorteil ist er meist schneller als der Notarzt. Zwei Autos waren aufeinander geprallt, fünf Personen leicht verletzt. Ein paar Helfer vor Ort waren bereits an der Unfallstelle. Kuder musste nicht helfen und konnte sich Zeit für das Interview nehmen.

 

Wobei haben Sie zuletzt geholfen?

Jens Kuder: Am Sonntag war ich bei einem kleinen Kind mit Epilepsie, das einen Krampfanfall hatte. Ich war sowieso mit dem Auto unterwegs, als der Alarm kam. Da bin ich direkt abgebogen. Nach zwei Minuten war ich da. Das Kind hat über längere Zeit gekrampft, trotz der Medikamente, die die Eltern gaben. Für das Kind war das gefährlich: Die Krämpfe können Schäden hervorrufen. Da muss man unter anderem Sauerstoff geben. Außerdem habe ich eine Infusion vorbereitet.

 

Wie fühlt es sich an, einem kleinen Kind helfen zu müssen?

Kuder: Das Kind hat ja noch geatmet. Die Situation war zwar kritisch, aber nicht dramatisch. Wenn man das lange macht, dann kriegt man eine gewisse Routine und eine gewisse Distanz. Empathisch sollte man sein, aber man darf das nicht an sich heranlassen. Trotzdem gibt es Situationen, die im Kopf bleiben.

 

Was sind für Sie dramatische Situationen?

Kuder: Wir haben bei einem Verkehrsunfall ein kleines Kind aus dem Auto geholt. Die Mutter ist vorne drin gestorben. Das Kind hatte eine Fraktur am Unterschenkel, aber sonst keine Verletzungen. Für die Mutter konnten wir nichts mehr tun. Da denkt man schon drüber nach.

 

Wie schaffen Sie es, dennoch die Distanz zu bewahren?

Kuder: Zum einen durch Routine und Professionalität. Zum anderen spricht man darüber, zum Beispiel mit meiner Frau, die ebenfalls bei den Helfern vor Ort ist. Für belastende Einsätze haben wir einen Einsatznachsorgedienst. Ich habe ihn bisher noch nicht gebraucht, schließe aber nicht aus, dass es einmal so weit kommt. Ich bin auch bloß ein Mensch.

 

Warum tun Sie sich das an?

Kuder: Ich habe mit 17 Jahren als Sanitäter bei der Bundeswehr angefangen. Damals war sicherlich ein bisschen Abenteuerlust dabei und auch ein bisschen Heldenepos. Das hat sich in der Realität nicht bewahrheitet.

 

Sie sehen sich also nicht als Held?

Kuder: Ein Held ist für mich ein Sechsjähriger, der einen Bus zum Stehen bringt, wo der Busfahrer einen Herzinfarkt hatte. Das sind Menschen, die etwas Außergewöhnliches tun. Die Helfer vor Ort tun jedoch Dinge, für die sie ausgebildet sind. Deshalb sind wir keine Helden.

 

Was motiviert Sie, sich trotzdem stets aufzuraffen, wenn der Meldeempfänger piepst?

Kuder: Das Helfen macht unheimlich viel Spaß und holt mich auf den Boden zurück. Wir sehen leider sehr viel soziales Elend, wenn wir in fremde Wohnungen kommen. Da merke ich immer wieder, wie gut es mir eigentlich geht. Beim Helfen sehe ich manchmal auch Dinge, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt.

 

Zum Beispiel?

Kuder: Als ich nach der Überschwemmung in Braunsbach war, habe ich Häuser gesehen, wo das halbe Haus inklusive Klo weggerissen war. Es gibt auch Situationen, die man keinem beschreiben kann. Zum Beispiel, wenn es um Suizide geht. Oder um die Reaktion der Angehörigen, die lauthals schreiend zusammenbrechen, wenn man eine Reanimation abbrechen muss. Bei anderen denkt man: Waren die überhaupt beteiligt? Es gibt nichts, was es nicht gibt. Das macht es für mich interessant: Man läuft nicht mit Scheuklappen durch die Welt.

 

Was macht bei der Tätigkeit weniger Spaß?

Kuder: Der Kampf ums Geld. Wir bekommen von nirgends Geld, müssen aber die Ausrüstung finanzieren.

 

Vielleicht bekommen Sie aber auf einer anderen Ebene etwas zurück.

Kuder: Wenn wir Glück haben, bekommen wir ein Danke zurück. Vielleicht spendet auch mal jemand etwas. Das Dankeschön ist schon viel wert. Wenn man gelobt wird, dann tut das einem ja gut in der Seele. Das ist wie das Bonbonle von früher. Es gibt aber auch Menschen, die die Hilfe nicht zu würdigen wissen. Da ist dieses Selbstverständnis: Die sind ja eh da. Das sind wir aber nicht, wir sind immer noch freiwillig. Der Rettungsdienst ja, der schon. Aber der braucht eben auch mal zwölf oder 15 Minuten. Mit jeder Minute schwindet jedoch die Überlebenschance und nach zwölf Minuten ist sie fast Null.

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Wie oft müssen Sie Menschen reanimieren?

Kuder: Im Jahr zwischen drei und acht Mal mit den Helfern vor Ort. Dazu kommen die Fälle im Rettungsdienst. Manche Menschen reanimiert man auch nicht mehr. Gerade, wenn ich ankomme und sehe: Das macht keinen Sinn, der Patient liegt schon seit einer halben Stunde und die Kieferstarre fängt an. Dann würde ich je nach Situation nicht mehr reanimieren. Das würde ich in manchen Fällen als unethisch empfinden.

 

Ist man als Helfer vor Ort Einzelkämpfer?

Kuder: Ja. Das ist man in vielen Fällen, weil man oft alleine unterwegs ist. Da ist eine Reanimation natürlich die Königsdisziplin. Eigentlich sollte man Tentakeln haben, damit man alle Maßnahmen gleichzeitig durchführen kann. Man muss sich um die Herzdruckmassage kümmern, sollte gleichzeitig den Defibrillator bedienen, man muss die Atemwege sichern und den Patienten beatmen.

 

Wie gehen Sie mit der Verantwortung um?

Kuder: Da habe ich mir noch nie richtig Gedanken darüber gemacht. Meine Mutter würde sagen: Der hat sich schon in der Schule immer für andere eingesetzt. Das mag schon sein. Ich sage gerne und offen meine Meinung.

 

Dann sind Sie auch im Alltag hilfsbereit?

Kuder: Ja, manchmal zu sehr. So ein kleines bisschen Helfersyndrom hat man schon. Wenn man lieb zu mir kommt, dann helfe ich normalerweise bei allem und jedem, wenn ich kann.

 

Warum?

Kuder: Ich tue etwas für andere, weil ich umgekehrt das Gleiche wünsche, wenn es mir mal schlecht geht. Wir sind eine Gesellschaft, die leider verroht. Früher sind die Menschen enger zusammengestanden. Weil man weiß, man kann das Leben gemeinschaftlich besser meistern. Die Gesellschaft entwickelt sich momentan in eine egozentrische Gesellschaft, wo jeder sich selbst der nächste ist. Ich bin der Meinung, das funktioniert nicht.

 

Hilft man manchen Menschen denn lieber als anderen?

Kuder: Vom gedanklichen her, ja. Man darf das aber nicht rauslassen, so viel Professionalität muss sein. Natürlich, gerade in einem Ort, wo man den ein oder anderen kennt, kann es passieren, dass man zu jemandem kommt und denkt: Dahin wollte ich jetzt nicht. Man tut"s aber trotzdem.

 

Und wenn Sie zu Bekannten kommen?

Kuder: Das kommt vor. Ich war schon oft bei Nachbarn und auch bei Angehörigen. Der zweite Ehemann meiner Mutter war beispielsweise schwer erkrankt und ist daran letztlich gestorben. Die persönliche Nähe kann von Vorteil sein, weil man Themen offener ansprechen kann. Sie kann aber natürlich auch belasten. Man geht emotional anders an die Sache heran.

 

Was leidet unterm Helfen?

Kuder: Letzten Endes die Familie und das Privatleben. Unsere Kinder haben früh lernen müssen, auch auf sich allein gestellt zu sein. Als sie ganz klein waren, sind wir natürlich nicht zum Einsatz gegangen. Aber irgendwann haben wir gesagt, jetzt probieren wir es mal.

 

Gibt es eine Schwelle, bei der Sie mit dem Helfen aufhören würden?

Kuder: Ja. Wenn es nicht mehr gewürdigt wird. Egal, ob von der Politik oder den Menschen, denen man ja eigentlich helfen möchte. Wenn das Danke nicht mehr kommt, dann gibt es keinen Grund mehr, warum ich das noch machen sollte. Die Wertschätzung, der Respekt, das Dankeschön sind die Dinge, die motivieren.

 

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