Engagement für Opfer von Straftaten verändert auch den, der anderen hilft
Alfred Kulka gibt die Leitung der Opferhilfe Weißer Ring in der Stadt und im Landkreis Heilbronn ab. Im Interview spricht er über die Fälle, die ihn beschäftigt haben, und über das, was bleibt.

Als Kriminalbeamter verfolgte er Straftäter, beim Weißen Ring kümmerte er sich 18 Jahre lang ehrenamtlich um die Opfer. Jetzt hört Alfred Kulka als Leiter der Außenstelle des Weißen Rings in der Stadt und im Landkreis Heilbronn auf. Wehmut ist dabei, sagt der 74-Jährige aus Flein. Aber auch Erleichterung. Man müsse aufhören können. Ein Gespräch über die Hilfe für Männer und Frauen, die Gewalt und Betrug erlebt haben.
Hat Sie das Engagement für Opfer beim Weißen Ring verändert?
Alfred Kulka: Ja. Ich habe bei der Polizei sicher nicht nur die Sonnenseiten des Lebens kennengelernt, sondern vor allem die Schattenseiten. Bei der Kripo war aber unser Ziel, die Täter zu ermitteln. Darauf lag der Fokus. Beim Weißen Ring dagegen habe ich Menschen kennengelernt, die in einem tiefen Loch steckten und nicht mehr herausfanden, die völlig unverschuldet in eine Situation geraten waren, für die sie nichts konnten. Die Hilfe brauchten.
Was hat das mit Ihnen gemacht?
Kulka: Man verliert ein bisschen das Vertrauen in die Gesellschaft. Statt Treu und Glaube sehe ich heute viel Lug und Trug. Die Solidarität in der Gesellschaft bröckelt, viele scheinen nur sich selbst zu sehen. Der Umgang mit Opfern macht mich aber auch dankbar. Mir und meiner Familie ist solches Leid erspart geblieben, und meine Frau und ich leben auch in finanzieller Sicherheit. Das ist so viel Wert. Ich denke, im Leben kommt es auf zwei wesentliche Standbeine an. Das eine ist die finanzielle Sicherheit und das andere ist die Partnerschaft, das zweite ist sogar noch wichtiger als das erste.
Können Sie sich noch an den ersten Fall für den Weißen Ring erinnern?
Kulka: Auf jeden Fall. Ein junger Mann verdiente sich was nebenher, indem er für ein Unternehmen Fahrzeuge überstellte. Ein Auto fuhr er nach Italien. Um Geld für eine Unterkunft zu sparen, ruhte er sich auf einer Parkbank aus. Dort wurde er brutal überfallen und verletzt. Mich hat das betroffen gemacht. Jemand, der sparsam ist, Geld verdienen will - und dann so etwas. Es war ähnlich wie jüngst in Idar-Oberstein, wo ein junger Mann, der in einer Tankstelle jobbte, im Streit um das Tragen einer Maske erschossen wurde.
Welche Ereignisse in den folgenden Jahren haben Sie nachhaltig beschäftigt?
Kulka: Da ist das Mädchen, das in Bad Friedrichshall von einer Mädchenclique gequält und misshandelt wurde. Das ist einfach nicht zu verstehen. Oder der junge Mann, der auf dem Weg zu seiner Freundin durch den Wertwiesenpark in Heilbronn ging und von sechs Männern zusammengeschlagen wurde. Das Opfer war hinterher so posttraumatisch belastet, dass es vor Angst nicht mehr durch den Park gehen konnte. Beschäftigt hat mich auch eine Frau, die von ihrem Partner niedergestochen wurde. Sie traute sich nicht mehr aus dem Haus. Im Zentrum für Psychiatrie in Weinsberg machte sie eine Therapie und hatte Angst, dem Täter zu begegnen, der dort im Maßregelvollzug einsitzt.
Was hat das für die Frau bedeutet?
Kulka: Sie hat die Therapie abgebrochen. Sie überlegt sogar, den Namen zu wechseln, um nicht mehr auffindbar zu sein, und sie denkt daran wegzuziehen. Zu dem Schritt kann sie sich aber nicht entschließen.
Statt den Täter in einem anderen Maßregelvollzug unterzubringen, geht das Opfer.
Kulka: Das kommt häufiger vor. Ich erinnere mich an eine Frau, die auf sehr brutale Weise in ihrer eigenen Wohnung von einem Bekannten vergewaltigt wurde. Sie zog aus Heilbronn weg in eine Stadt im Badischen.
Nach 18 Jahren machen Sie nun Schluss mit der Hilfe für Opfer. Wie geht es Ihnen damit?
Kulka: Es ist Wehmut dabei, ich habe die Arbeit gerne gemacht. Dennoch überwiegt die Erleichterung. Erst jetzt komme ich wirklich im Ruhestand an. Ich denke, jeder muss irgendwann aufhören und anderen die Aufgaben überlassen.
Was hat Sie überhaupt angetrieben, so lange nach der Pensionierung weiter tätig zu sein?
Kulka: Ich konnte aus der Sicherheit einer intakten Ehe heraus tätig sein. Ohne die beste Ehefrau wäre so ein Engagement nicht möglich gewesen. Manchmal rief schon jemand morgens um sieben bei mir an, dann hat meine Frau mich gedrängt ranzugehen. Ich selbst war eigentlich gelassener. Mir war immer klar, dass ich nicht Feuerwehr spielen kann. Die Dinge waren schon lange geschehen, es kam nicht mehr auf eine Stunde früher oder später an.
Es suchen vor allem Frauen beim Weißen Ring Hilfe. Wie erklären Sie sich den geringen Anteil an männlichen Opfern?
Kulka: Ich tue mich schwer, eine Erklärung zu finden. Viele wissen sicher nach wie vor nicht, dass es den Weißen Ring gibt. Denn Männer werden genauso Opfer. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Fall des jungen Mannes, der bei der Harmonie von einer Gruppe von Männern zusammengeschlagen wurde. Die Mutter des Opfers wandte sich an den Weißen Ring. Männer scheinen seltener in eine seelische Ausnahmesituation zu geraten. Frauen sind häufiger moralisch am Ende. Sie benötigen nicht nur finanzielle Unterstützung zum Beispiel in Form eines Schecks für die Erstberatung bei einem Anwalt. Sie brauchen weitergehende Hilfen.
Wie haben Sie die mitunter sicher auch erschütternden Berichte der Opfer verarbeitet?
Kulka: Ich habe mir bewusst gemacht, dass ich persönlich nur eingeschränkt Einfluss auf die Lage der betroffenen Menschen habe. Ich kann als Ansprechpartner des Weißen Rings die Situation für andere nicht so gestalten, dass sie ein zufriedenes Leben führen können. Ich kann mich nur kurzfristig einbringen, ich kann nicht die ganze Welt retten.
Erlebten Sie auch Kurioses?
Kulka: Einige haben falsche Vorstellungen vom Weißen Ring. Wir zahlen zum Beispiel kein Schmerzensgeld. Ein Mal kam es vor, dass drei Männer vor meiner Haustür standen. Sie sagten, sie hätten 30.000 Euro gewinnbringend angelegt und nun sei das Geld weg. Sie fragten, ob der Weiße Ring helfen und die 30.000 Euro ersetzen könne. Das macht er selbstverständlich nicht.
Wie gehen Sie die Zeit nach dem Weißen Ring an?
Kulka: Ich denke, das Leben besteht aus Pflicht und Neigung. Mit Pflicht meine ich, dass jeder so handeln sollte, dass es Gesetz werden könnte. Meine Neigungen sind Bewegung an der frischen Luft, die Gartenarbeit auf dem Haigern, joggen im Wald, mit über 70 noch Fußball spielen. Ich hoffe, dass ich diesen Neigungen noch lange nachgehen kann. So strebe ich auch dieses Jahr nach bislang 42 Auszeichnungen erneut das Deutsche Sportabzeichen in Gold an.
Zur Person
Alfred Kulka (74) stammt aus Neckarsulm. 1973 beginnt er die Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei in Bruchsal. 1975 wechselt er in den Streifendienst im Revier Heilbronn. Bereits ein Jahr danach geht er zur Kripo und bleibt dort bis zur Pensionierung 2008. Die Leitung der Außenstelle des Weißen Rings in der Stadt und im Landkreis Heilbronn übernimmt er 2004 für 18 Jahre. Seit 1973 ist er mit Renate Kulka verheiratet. Sie haben zwei Kinder und vier Enkel. Der passionierte Sportler engagiert sich Zeit seines Lebens kommunalpolitisch als Gemeinderat in Flein sowie als Mitglied des Kreistags und im Regionalverband.