Abschieds-Interview mit Polizeipräsident Hans Becker: "Ich wollte Streife fahren"
Hans Becker spricht über seine Karriere als Polizeipräsident in Heilbronn und seine Pensionierung zum Jahreswechsel. Der 64-Jährige freut sich auf mehr Zeit mit seiner Familie.

Hans Becker hat erst kürzlich sein neues Büro im dritten Stock des Polizeipräsidiums-Neubaus bezogen, mit großen Fenstern und einem ausschweifenden Blick auf den Heilbronner Wartberg. Doch der Polizeipräsident geht in wenigen Wochen in Pension. In einem Abschiedsinterview mit der Heilbronner Stimme spricht der 64-Jährige über das Ende seiner aktiven Zeit bei der Polizei.
Herr Becker, es ist Mittwoch, 14 Uhr. Das erste Deutschland-Spiel der WM startet und wir sitzen hier zu einem Interview zusammen. Sind Sie nicht fußballinteressiert?
Hans Becker: Doch, sehr. Der Terminvorschlag kam nicht von mir, sondern von meiner Sekretärin. Sie hat eine andere Perspektive auf diese Sportveranstaltungen. Ich muss sie etwas in Schutz nehmen: Ich habe momentan eine so hohe Zahl an Terminen. Es ist eine Herausforderung, noch passende Termine zu finden.
Verfolgen Sie die WM?
Becker: Nicht jedes Spiel, aber zumindest die des deutschen Teams.
Wie stehen Sie zur One-Love-Binde?
Becker: Die Diskussion darum finde ich völlig überzeichnet. Ich frage mich vielmehr, wie man allein aus Umweltgesichtspunkten eine WM an Katar geben kann. Wir wissen ja alle: Das ist nicht mit rechten Dingen zugegangen. Hier in Deutschland legen wir Wert auf Klimaschutz, dort unten muss man Stadien kühlen, damit Fußball gespielt werden kann. Aber man hatte jetzt zwölf Jahre Zeit, die WM-Vergabe zu kritisieren. Jetzt sollte der Sport im Vordergrund stehen und nicht die ganzen Nebenkriegsschauplätze.
Wir hatten Sie in Ihrer Zeit immer als Polizeipräsidenten wahrgenommen, der gerne Fragen beantwortet, aber ungerne politische Äußerungen trifft. Liegt das in der Natur der Sache?
Becker: Unparteiisch, neutral, das ist meine wichtigste Aufgabe hier als Präsident. Ich muss mit allen demokratischen Parteien sprechfähig sein und brauche ja auch alle am Ende des Tages. Sie sitzen alle im Landtag und treffen Entscheidungen über die Polizei, dann müssen die mir auch zuhören können. Deswegen habe ich auch einen sehr guten Draht zu allen Abgeordneten.
Politisch aktuell ist jetzt die Kennzeichnungspflicht bei Polizisten bei Demonstrationen. Da hatte man sich ja lange Zeit dagegen verwehrt.
Becker: Ja. Ich persönlich hätte nicht unbedingt eine Notwendigkeit gesehen. Ich kenne keinen einzigen Vorgang von Versammlungslagen, wo ein Kollege angezeigt worden wäre, den man nicht hat identifizieren können. Aber es gilt das Primat der Politik und wir werden damit umgehen können.
Können Sie sich noch an Ihren ersten Tag bei der Polizei erinnern?
Becker: Da gibt es zwei wichtige Tage. Der erste Tag war in Bruchsal bei der damaligen ersten Abteilung der Bereitschaftspolizei. Ich wurde von einem Bekannten abgeliefert, weil ich erst 16 Jahre alt und war und noch kein Auto fahren durfte. Erstmal habe ich alles gezeigt und später eine Uniform bekommen. Erlebnisse, die ich nicht vergesse. Der zweite wichtige Tag war: Prüfung und Ausbildung waren beendet und ich machte in Mannheim-Oststadt - in einer Großstadt - meinen ersten Dienst, mit großen Herausforderungen. Das war 1977, also nicht erschrecken.
War Polizist sehr früh Ihr Berufswunsch?
Becker: Eigentlich nicht. Ich bin nicht auf die Welt gekommen und habe gesagt: Ich werde Polizist. Es hat sich einfach so ergeben. Ich habe ja mit mittlerer Reife bei der Polizei begonnen. Ich komme aus einer Familie mit acht Kindern und ich wollte Geld verdienen. Ein Freund von mir war damals ein Jahr vorher zur Polizei gegangen und er hat geschwärmt.
Ihr Vize hatte mal gesagt, er wollte Polizeipräsident werden seit seinem ersten Tag. War das bei Ihnen auch so?
Becker: Nie und nimmer. Ich wollte Streife fahren und hatte keine hochtrabenden Pläne und Ziele. Es ist alles auf mich zugekommen.
So sind Sie eine Karrierestufe nach der anderen nach oben geklettert. Waren plötzlich im Innenministerium und haben an der großen Polizeireform maßgeblich mitgewirkt.
Becker: Da haben Sie jetzt aber vieles übersprungen. Eines wollte ich noch zur mittleren Reife sagen, da werden sich viele wundern. In diesem Punkt bin ich der Polizei unglaublich dankbar. Es gab die Möglichkeit, nebenher oder im Beruf Bildung nachzuholen. Ich konnte die Fachhochschulreife erwerben, ein Fachhochschulstudium machen, einen Masterstudiengang belegen. Diese Chancen gibt es so nicht in jedem Beruf.
Wenn man dann so hört, eine geplante Polizeireform kassiert einen dann in Mosbach, sträubt man sich da nicht erstmal dagegen?
Becker: Klar. Meine erste Reaktion, die war auch so. Ich war nicht glücklich darüber. Als mich der damalige Projektverantwortliche für die Reform anrief und fragte, ob ich an seiner Seite mitarbeiten möchte, habe ich erstmal kurz schlucken müssen. In solchen Situationen gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ich bleibe in der Schmollecke sitzen. Oder ich nehme die andere Variante und kann mit gestalten und einiges beitragen, dass die Reform in eine gute Richtung geht. Ich habe mich für diese Variante entschieden, was mir am Anfang übrigens Kritik eingebracht hat.
Was für Kritik?
Becker: Naja, ich hatte ja als Leiter der Polizeidirektion Mosbach mit vielen im Landkreis kooperiert. Das war eine tolle Zusammenarbeit. Und dann gehe ich rüber zu einem Projekt, das die Auflösung dieser Strukturen beschließt. Die Kritik ist aber nach kurzer Zeit abgeebbt. Für mich war immer wichtig, dass der ländliche Raum mitgenommen wird und die dezentralen Strukturen − Polizeireviere, Kriminalpolizei, Verkehrspolizei − vor Ort bleiben. Wenn das nicht so gewesen wäre, weiß ich nicht, was ich gemacht hätte.
Rückblickend: Ein Erfolg auf ganzer Linie, die Polizeireform?
Becker: Wir haben die ganze Polizei neu aufgestellt, sämtliche Aufgaben und Prozesse und die ganze Organisation wurden neu strukturiert. Es war ein Megastress. Wir sind zweimal überprüft geprüft worden und haben zwei Mal ein sehr gutes Zeugnis bekommen. Dann haben wir wohl das meiste richtig gemacht. Deshalb: Haken dran und gut.
Muss noch irgendwas verbessert werden?
Becker: Man sollte jetzt mal die Polizei in dieser Organisation belassen. Das wäre mein Wunsch. Verändern und anpassen wird sich die Polizei immer müssen. Die Kriminalität ändert sich ständig und in der Digitalisierung müssen wir uns vielleicht langfristig neu aufstellen. Sie waren ja selbst betroffen mit dem Hackerangriff auf die Heilbronner Stimme.
Wie werden Sie die Pandemie in Erinnerung behalten? Sie hatten im Januar in einem Interview zunehmende verbale Anfeindungen gegen Polizisten beklagt. Ist das besser geworden?
Becker: Nein, ganz klarer Fall. Corona war da ein richtiger Beschleuniger. Wir haben das bei den ganzen Querdenker-Demos gemerkt, diese vielen persönlichen Anfeindungen, die nicht immer beleidigend, aber provozierend waren. Für wen seid ihr denn eigentlich da und wisst ihr überhaupt, welchem Staat ihr dient? Solche Fragen bekamen meine Kollegen gestellt, und das oftmals aus einem bürgerlichen Lager. Viele Menschen habe sich verbal deutlich gegen den Staat gestellt. Das war schon eine neue Erkenntnis für mich.
Können Sie sich erklären, an was das liegt?
Becker: Beleidigungen und Anpöbeleien allgemein haben zugenommen und das hat vielleicht etwas mit Erziehung zu tun. Ich weiß noch, in meiner eigenen Kindheit, da gab es ein paar Regeln und eine Schwelle, die durfte man nicht überschreiten. Ich denke, ein Stück weit hat es damit zu tun, wie heute Erziehung stattfindet und auch damit, wie man den Staat zu Hause in der Familie darstellt. Es ist eine gesellschaftliche Entwicklung, der nicht nur Polizisten, sondern auch Politiker zunehmend ausgesetzt sind.
Es heißt ja immer, Heilbronn sei die sicherste Großstadt in Baden-Württemberg. Viele reagieren belustigt, wenn das geäußert wird. Verstehen Sie, warum das nicht alle so sehen?
Becker: Ja, ich verstehe das. Aus dem einfachen Grund, weil das subjektive Sicherheitsgefühl nicht immer damit etwas zu tun hat, dass es wo viele Straftaten gibt. Oder dass man Gefahr läuft, Opfer einer Straftat zu werden. Wenn eine Frau durch die Kaiserstraße läuft an der Kilianskirche vorbei und da stehen ein paar junge Migranten herum und machen ein paar zotige Bemerkungen, dann fühlt die Frau sich unsicher. Obwohl faktisch gar nichts passiert ist. Wenn sie in der Stadt unterwegs sind, und sie in bestimmten Bereichen alle paar Meter ein Graffiti sehen und vielleicht noch Müll herumliegt, fühlen sie sich unwohl. Das hat alles nichts mit Kriminalität zu tun, trotzdem wirkt es sich aus. Deswegen war es auch mein Herzenswunsch, das weiß unser OB: Wir müssen die Betroffenen abholen. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt Bürgerbefragungen durchgeführt haben. Da gibt es gute Hinweise, die können wir aufgreifen.
Zum Beispiel?
Becker: Zum Beispiel in Neckargartach. Auf meinem Lagebild ist das eher unauffällig. Also müssen wir mal hinschauen: Was ist denn da? Wir haben da eine Zielgruppe - junge Frauen mit Migrationshintergrund, die Opfer von Telefonbetrügern und angeblich von Europol angerufen werden. Vielleicht können wir da präventiv agieren. Auch für die Innenstadt Heilbronn gibt es ein paar sehr gute Ansatzpunkte.
Eine Zeit lang war ja ein Streifenwagen regelmäßig an der Kilianskirche gestanden, wie waren da Ihre Erfahrungen?
Becker: Das wirkt immer deeskalierend, wenn die Polizei wo ist. Das ist ja klar. Für die allermeisten wirkt Polizeipräsenz offensichtlich beruhigend. Und beim Thema Fußstreifen sind wir gerade am Klären, wie wir was machen wollen.
Wir dachten, Sie sind bald raus. Sie sprechen mitunter so an, als würden Sie länger im Dienst bleiben.
Becker: Das ist ein bisschen mein Problem, dass ich noch voll drin im Geschäft bin. In ein paar Wochen schlägt es Zack und dann musst du deinen Chip abgeben.
Wenn Sie denn noch ein Jahr hätten, was würden Sie angehen?
Becker: Einige Pfeile hätte ich noch im Köcher, aber die lasse ich jetzt drinstecken.
Würden Sie gerne verlängern, wenn es gesetzlich möglich wäre?
Becker: Gesetzlich ist mit 65 Schluss und ich werde im Februar 65. Ja, wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich noch ein oder zwei Jahre drangehängt. Aber es ist halt so, wie es ist.
Wie viele Ihrer Führungskräfte im höheren Dienst sind Frauen?
Becker: Fünf von 15. Ich habe das immer extrem gefördert und bin bereit zu akzeptieren, dass Familie und Beruf miteinander vereinbart werden wollen. Ich habe immer erkannt, die Frauen sind supergut. Der Weg stimmt. Ich habe übrigens auch zunehmend männliche Kollegen, die in Elternzeit gehen. Zu meiner Zeit war das ja noch undenkbar. Und auch das ist in Ordnung, da tut sich viel. Die Polizei entwickelt sich da in die richtige Richtung.
Haben Sie sich schon überlegt, was Sie im Ruhestand machen werden?
Becker: Keine Pläne. Nur einen: Ich möchte jetzt über meine Zeit verfügen können. Mehr, als es die letzten 48 Jahre möglich war. Meine Frau hat immer die Familie organisiert, und der Papa war halt unterwegs. Früher gab es diese Möglichkeiten nicht, die es heute gibt und die ich Vätern und Führungskräften gerne ermögliche. Jetzt kann ich ein bisschen etwas gut machen. Meine Frau geht früh morgens aus dem Haus, sie arbeitet in Mannheim. Und dann bin ich zuständig morgens für Frühstück und Mittagessen für unseren 14-jährigen Sohn. Unsere anderen vier Kinder sind bereits aus dem Haus.
Empfinden Sie mehr Vorfreude als Wehmut mit Blick auf Ihre Pension?
Becker: Ja. Ich habe dienstags eine Skatrunde mit Freunden und ich weiß nicht, wie oft in letzter Zeit ich absagen musste wegen beruflicher Verpflichtungen. Und wissen Sie, wann ich gestern Abend Sport gemacht habe? Um 21.30 Uhr. Ich würde in Zukunft gerne dann Sport machen, wann ich Lust dazu habe. Der Job, den ich wahnsinnig gerne gemacht habe, ließ vieles nicht zu.
Wir würden gerne noch ein aus Polizeiperspektive unangenehmes Thema ansprechen: der Untersuchungsausschuss im Landtag zur Polizeiaffäre. Wie ist Ihre Haltung dazu?
Becker: Da kann niemand glücklich sein über das, was dort läuft. Ich meine, dass hier aus einem Vorgang, der wohl stattgefunden hat, jetzt medial und auch teilweise politisch ein Bild der polizeilichen Führungsebene und der dortigen Personalentwicklung gezeichnet wird, der nicht einmal ansatzweise der Wirklichkeit entspricht. Das stört und ärgert mich sehr, es macht mich auch traurig.
Wie werden Sie sich von Ihren Kollegen verabschieden, was für Kuchen werden Sie backen?
Becker: Äh. Was für Kuchen ich werde backen lassen? Ich esse gerne Kuchen.
Sie hatten nur gerade gesagt, Sie fördern Männer in Elternzeit und Frauen in Führungspositionen. Da werden Sie doch Kuchen backen?
Becker: Momentan kann ich da nur Kuchen aus so fertige Backmischungen anbieten, das muss natürlich noch besser werden.
Hans Becker ist 64 Jahre alt und lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in der Gemeinde Mühlhausen im Rhein-Neckar-Kreis. Vier erwachsene Kinder sind bereits aus dem Haus. Polizeipräsident in Heilbronn ist Becker seit Oktober 2017. Drei Jahre zuvor war er Polizeivizepräsident. In den Polizeidienst des Landes Baden-Württemberg war Becker im Jahr 1974 eingetreten. 1995 war Becker stellvertretender Leiter des Lagezentrums beim Innenministerium. 2002 übernahm er die Leitung der Polizeidirektion Mosbach. Von 2012 bis 2014 war er stellvertretender Gesamtprojektverantwortlicher für die Umsetzung der Polizeireform in ganz Baden-Württemberg.
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