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Achim Brötel im Interview
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Landkreistag-Präsident sieht Kommunen am Abgrund: „Sozialausgaben fressen uns auf“

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In der TV-Talkshow bei Markus Lanz fand Achim Brötel zuletzt vor großem Publikum deutliche Worte. Die Kommunen stehen vor dem finanziellen Kollaps, sagt der Präsident des Deutschen Landkreistags und Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises. 


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Steht es wirklich so schlimm um die Kommunen?

Achim Brötel: Ich bin schon lange im Geschäft, seit 20 Jahren Landrat, davor knapp sieben Jahre Bürgermeister. Ich habe es aber tatsächlich noch nie so dramatisch erlebt wie heute. Es gab immer finanzielle Krisensituationen, aber es war dann auch wieder Licht am Ende des Tunnels sichtbar. Im Moment fehlt uns hingegen schlicht die Perspektive.

Viele Landkreise, Städte und Gemeinden können ihre Haushalte jetzt schon nicht mehr ausgleichen. Wohin führt das?

Brötel: Wir steuern auf eine Situation zu, wo wir handlungsunfähig werden. Unsere Pflichtausgaben müssen wir erfüllen, alles andere wird aber hinterfragt werden. Denken Sie nur etwa an den ÖPNV. Dass wir Buslinien streichen müssen, ist ein denkbares Szenario. Oder im Bereich der Kultur oder Förderung des Ehrenamts. All das steht auf dem Spiel. Dabei sind das doch Dinge, die Herz und Seele eines Landkreises ausmachen. Ein wichtiges Stück Lebensqualität für die Bürger. Deshalb werde ich auch dafür kämpfen, dass das möglichst erhalten bleibt.

Landrat Brötel: Sorge um Entwicklung im ländlichen Raum

Wird der ländliche Raum sonst zuerst abgehängt?

Brötel: Wenn Strukturen erst einmal weggebrochen sind, kommen sie erfahrungsgemäß nicht wieder. Das gilt auch bei der Krankenhausversorgung. Da wird die Luft eh immer dünner. Gerade Baden-Württemberg hat viel für die Entwicklung der ländlichen Räume getan, da ist vieles passiert in Sachen Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Meine Sorge ist aber, dass wir durch die finanzielle Not jetzt wieder in die 60er-Jahre zurückgeworfen werden.

Was fordern Sie als kommunaler Spitzenverband?

Brötel: Wir brauchen eine Finanzierung, die den uns übertragenen Aufgaben angemessen ist. Konkret: Bisher bekommen wir als kommunale Ebene zwei Prozent des Umsatzsteueraufkommens, wir brauchen aber mindestens das Dreifache.

Wird das mit der neuen Bundesregierung umsetzbar sein?

Brötel: Ich bin verhalten optimistisch. Der Koalitionsvertrag hat unsere Probleme zumindest erkannt und spricht von einer angemessenen Finanzierung, verschiebt das Ganze dann aber auf einen Zukunftspakt von Bund, Ländern und Kommunen mit unbestimmtem Datum. Das muss jetzt schnell gehen.

Auftritt mit Boris Palmer bei Markus Lanz wirkt nach 

Der Landkreistag fordert auch, den Sozialstaat neu aufzustellen. Was meinen Sie konkret?

Brötel: Die Sozialausgaben fressen uns regelrecht auf. Ein Beispiel: die Karenzzeit bei Wohnungsmieten im Bürgergeld. Zwölf Monate lang muss das Jobcenter jede Phantasiemiete zahlen, nicht nur die angemessenen Kosten. Das ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Solidarität. Zwei Ehepartner, die beide arbeiten gehen, können sich vielleicht mit Mühe und Not eine angemessen große und angemessen teure Wohnung leisten. Der Nachbar, der Bürgergeld bezieht, bekommt hingegen eine unangemessen große und unangemessen teure Wohnung vom Jobcenter bezahlt. So etwas spaltet doch die Gemeinschaft. Ich kenne Fälle, in denen Mietinteressenten ihrem potentiellen Vermieter ganz offen sagen: Die Wohnung gefällt mir, ich nehme sie, egal, was sie kostet. Weil sie Bürgergeldempfänger sind. Das ist in meinen Augen niemand vermittelbar.

Es gibt aber auch keine günstigen Wohnungen auf dem Markt.

Brötel: Das ist richtig. Deshalb brauchen wir dringend mehr bezahlbaren Wohnraum. Ein Teil der Lösung könnte beispielsweise sein, dass es bundesweit zwei Millionen leerstehende Wohnungen im ländlichen Raum gibt. Und: Da geht es nicht nur um die nicht bewohnbare Bruchbude, sondern etwa auch um viele Einliegerwohnungen in Einfamilienhäusern.

Aber die Eigentümer vermieten nicht?

Brötel: Genau. Weil sie Angst vor dem Mietrecht haben, das sehr mieterfreundlich ist und auch keinen finanziellen Vorteil für sich sehen, der das aufwiegt. Deshalb müsste es steuerlich gefördert werden, wenn jemand vermietet, etwa durch erhöhte Freibeträge.

Forderung: Sanktionen gegen „Terminschlamper“ im Jobcenter

Sie fordern auch Sanktionen gegen säumige Bürgergeldempfänger. Wo hapert es?

Brötel: Die oft diskutierten Totalverweigerer sind zahlenmäßig sicher nicht das große Problem. Was wir aber massiv haben, sind Terminschlamper. Und: Es gibt derzeit kaum Sanktionsmöglichkeiten, wenn jemand Termine mit dem Jobcenter versäumt. Das muss sich endlich wieder ändern.

Tübingens OB Boris Palmer hat für Wirbel gesorgt, weil er einen Bürgergeldbescheid über mehr als 7000 Euro öffentlich gemacht hat. Was halten Sie davon?

Brötel: Ich würde das persönlich nicht so machen. Vielleicht ist das aber tatsächlich der einzige Weg, um die Dinge wirklich ganz konkret zu beschreiben. Nochmal zu den Phantasiemieten und der Karenzzeit: Wir bezahlen das schließlich auch zu knapp 30 Prozent aus kommunalem Geld, auch das trägt am Ende also zu unserer finanziellen Schieflage bei.

„Wir brauchen eine Wende in der Migrationspolitik“, schreibt der Landkreistag. Wie soll die Wende aussehen?

Brötel: Wir können nicht mehr so viele Menschen aufnehmen wie bisher. Bei der Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft ist die Grenze überschritten. Der Neckar-Odenwald-Kreis hat ganz bewusst immer mehr Plätze zur Verfügung gestellt, als er rein rechnerisch hätte bringen müssen. Die schiere Zahl droht uns inzwischen aber alle zu überfordern. Wir laufen Gefahr, Parallelgesellschaften zu bekommen wie in Frankreich, das will keiner. Wenn wir Menschen in Not helfen wollen, dürfen wir unsere eigenen Kräfte dabei auch nicht überschätzen.

Wie beurteilen Sie, was die neue Bundesregierung plant?

Brötel: Da geht vieles in die richtige Richtung. Die angekündigten Maßnahmen werden wohl schon dafür sorgen, dass insbesondere die Zahl der irregulären Zuzüge weiter zurückgeht. Grundsätzlich brauchen wir aber vor allem eine stringente europäische Asylpolitik. Und: Deutschland muss dabei auch wieder eine Führungsrolle in Europa übernehmen. Da habe ich die Ampel leider gar nicht wahrgenommen.

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