Es gibt 150.000 Krankenhausbetten in Deutschland, rund 1600 Kliniken und 630 Häuser im Traumanetzwerk. Diese Strukturen sind für den Normalbetrieb gebaut, nicht für eine großangelegte Krisenversorgung.
Im Bündnisfall „brauchen wir auch die kleinen Krankenhäuser“, sagt Unfallchirurg Pennig
Mit der Krankenhausreform sollen Leistungen zentralisiert und kleine Häuser umgewidmet oder geschlossen werden. Ein Fehler, mahnen Ärzte. Man brauche sie, falls Kriegsverletzte versorgt werden müssen.

Die Krankenhausreform zielt auf Effizienz, Spezialisierung und Kostensenkung durch den Abbau von „Doppelvorhaltungen“, wie es im Fachjargon heißt. Der frühere SPD-Minister Karl Lauterbach hat sie gegen heftige Widerstände auf den Weg gebracht, seine CDU-Nachfolgerin Nina Warken hält am Kern der Reform fest.
Allerdings haben sich die weltpolitischen Rahmenbedingungen weiter verschärft, die Bedrohung durch Russland nimmt stetig zu. Militärplaner mahnen, die deutsche Zivilgesellschaft müsse sich schneller und besser auf einen Bündnis-Verteidigungsfall vorbereiten. Das wirft die Frage auf, ob die Klinikreform noch zu den sicherheitspolitischen Herausforderungen passt – oder eine Neubewertung der medizinischen Versorgungsbedarfe nötig ist.
Die Ausgangslage: Eine Reform für den Frieden
Kleine Häuser sollen mit der Reform zu sektorenübergreifenden Grundversorgern umgebaut oder geschlossen, die Medizin stärker zentralisiert werden. Im zivilen Regelbetrieb kann das sinnvoll sein – im Bündnis- oder Katastrophenfall aber möglicherweise gefährlich, weil Kapazitäten für die Versorgung Verletzter fehlen könnten. Klar ist: In einem solchen Fall wird Deutschland zur logistischen Drehscheibe der Nato. Tausende Verletzte könnten aus Einsatzgebieten oder betroffenen Regionen zur Versorgung ins Land verlegt werden. Zusätzlich ist mit Flüchtlingsströmen zu rechnen – Menschen, die ebenfalls medizinisch versorgt werden müssen. Ist das Gesundheitssystem darauf vorbereitet?
Der Schlüssel liegt für die Fachleute in der engen Vernetzung zwischen zivilem und militärischem Bereich, denn klar ist: Im Bündnisfall könnten die fünf Bundeswehrkrankenhäuser in Deutschland die Versorgung der prognostizierten 1000 Verletzten täglich nicht stemmen. Das müssten zivile Kliniken übernehmen. „85 bis 95 Prozent aller Verwundeten werden in Ihren Krankenhäusern behandelt werden müssen, da können Sie sich nicht rausnehmen“, sagte Generalarzt Benedikt Friemert vom Bundeswehrkrankenhaus Ulm beim Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) Ende Oktober in Berlin.
„Wir brauchen gute Konzepte – nicht mehr von allem“
Oberstarzt Professor Axel Franke (Ulm) hält den Ruf nach immer neuen Kapazitäten für den falschen Ansatz. Entscheidend sei die Struktur, sagte er. „Wir brauchen gute Konzepte für eine Krisenversorgung und nicht zwingend mehr von allem.“ In Deutschland gebe es Reserven, denn kein Krankenhaus würde seine Kapazitäten zu 100 Prozent auslasten. 20 bis 25 Prozent seien im Schnitt nicht belegt, weitere 20 bis 25 Prozent der Kapazitäten entfallen auf elektive Maßnahmen – also planbare Eingriffe, die nicht lebensnotwendig sind und im Ernstfall zurückgestellt werden könnten. Das Potenzial sei vorhanden, betont er. „Wir müssen daran arbeiten, wie wir diese Reserven nutzbar machen und die Patienten gerecht verteilen.“
Funktionierende Schnittstellen zwischen Militär und Kliniken schaffen
Professor Dietmar Pennig, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), verweist auf das deutsche Traumanetzwerk, es sei ein europaweit einmaliges System: 630 Kliniken sind darin über Zertifizierungen verbunden, viele von ihnen hochspezialisiert. Pennig sagt, gut funktionierende Schnittstellen vom militärischen in diesen zivilen Sektor seien entscheidend: „Es müssen Transporthubs identifiziert werden, über die Verletzte in die Strukturen des deutschen Traumanetzwerks weiterverlegt werden könnten.“ Diese Hubs müssten über Zugang zu Häfen, Flughäfen und Eisenbahnknotenpunkten verfügen – Orte, an denen militärische Evakuierung und Weiterverlegung in zivile Strukturen zusammenlaufen können. „Wir brauchen einen Netzwerkkoordinator für die Übergabe und eine gemeinsame Sprache“, so Pennig. Die Voraussetzungen seien jetzt zu schaffen. „Die Politik muss verstehen, dass wir im Ernstfall nicht mit denselben Abläufen und Materialien arbeiten können wie in Friedenszeiten. Doch das Bewusstsein und die strukturellen Voraussetzungen fehlen bislang.“
Wolfgang Linhart: „Im Bündnisfall müssten wir in anderen Kategorien denken“
„Im Bündnisfall müssen wir in anderen Kategorien denken“, sagt auch SLK-Klinikdirektor Professor Wolfgang Linhart. „Vieles, was jetzt in den Kliniken gemacht wird, wird dann nicht mehr möglich sein.“ Niedergelassene Ärzte müssten komplett die Akutversorgung von Bagatellen übernehmen, damit in Kliniken Kapazitäten für Schwerverletzte frei werden. Doch die Rolle von niedergelassenen Ärzten, Privatkliniken oder sekundären Versorgungseinrichtungen wie Reha-Kliniken ist noch nicht definiert, wie Redebeiträge in Berlin zeigten. Dabei spielten etwa Reha-Kliniken „eine überragende Rolle in Kriegszeiten“.
Ukrainische Delegation: Das sind die Lehren
Wie schnell die Realität die zivile Medizin einholen kann, zeigten Erfahrungsberichte einer ukrainischen Delegation. Dr. Volodymyr Kovalchuk von der Shupyk National Medical Academy in Kiew sagte unserer Redaktion: „Die wichtigste Lehre für Deutschland ist die Notwendigkeit eines flexiblen und anpassungsfähigen Gesundheitssystems, das zur schnellen Mobilisierung und Integration ziviler und militärischer Ressourcen fähig ist.“ Die Erfahrung aus ihrem Land zeige, wie wichtig dezentrale Entscheidungsstrukturen und kontinuierliches Training des medizinischen Personals im Umgang mit Massenverletzten und komplexen Traumata seien. Im Vortrag der Delegation wurde klar: Jede Gesundheitseinrichtung in der Ukraine beteiligt sich an der Versorgung Verwundeter, die Verlegung wird von militärischer Seite koordiniert. Aber: Zwischen den unterschiedlichen Versorgungsstrukturen im zivilen Bereich gibt es häufig Absprachemängel und Verzögerungen, weil Ärzte die Anschluss-Versorgung in zivilen Kliniken individuell organisieren müssen.
Krankenhausreform ist eine Reform für Friedenszeiten
So ist die Krankenhausreform eine Reform für Friedenszeiten – doch die „Doppelstrukturen“, die dadurch beseitigt werden sollen, könnten im Krisenfall eine lebenswichtige Reserven sein. „Unsere Nato-Partner, die Militärs aber auch der Sanitätsdienst, sehen die Schrumpfung unserer Krankenhausbetten mit großer Sorge“, sagt Pennig. Vor 1989 habe es rund 135.000 Betten in Bundeswehrkrankenhäusern und Lazaretten gegeben, doch die seien alle abgebaut worden. „Das ist unsere Friedensdividende.“ Nun sollten auch noch zivile Kapazitäten ausgedünnt werden. Insbesondere in den ländlichen Gebieten im Norden und Osten, in denen die Versorgung ohnehin schon schlecht ist, sei das ein großes Problem, so Pennig. „Wir brauchen im Verteidigungsfall auch die kleinen Krankenhäuser, damit die Patienten aus den großen Einrichtungen abfließen können.“

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