Gesundheitssystem am Limit: Welche Reformen jetzt dringend nötig sind
Personalmangel, fehlende Patientensteuerung und steigende Kosten setzen das Gesundheitswesen unter Druck. Entscheidungsträger von Kassen, aus Kliniken und Praxen, sagen, was sich dringend ändern muss.
Personalmangel, fehlende Patientensteuerung, lange Wartezeiten auf Termine: Die Probleme im Gesundheitswesen spitzen sich immer weiter zu. Pflegekräfte und Ärzte arbeiten am Limit. Die zersplitterten Versorgungsstrukturen mit der typisch deutschen Unterscheidung zwischen ambulant und stationär, Haus- und Fachärzten und der freie Zugang für Patienten ins System erschweren koordinierte Behandlungsabläufe. Das Ergebnis ist ein System, das medizinisch zwar viel leistet, dafür aber auch sehr teuer ist.
Dringender Reformbedarf: Das sagen Kassenvertreter, Ärzte und Klinikchefs
Wenn keine deutlichen Strukturreformen folgen, werden die Krankenkassenbeiträge für Versicherte weiter in die Höhe klettern und immer mehr Kliniken Defizite schreiben oder in die Insolvenz rutschen. Was muss sich dringend ändern, um das System nicht weiter zu überdehnen? Das hat unsere Redaktion Entscheidungsträger aus unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitssystems gefragt: von Krankenkassen, Kliniken und aus dem niedergelassenen Bereich.

Barmer-Chef Plötze: „Die Krankenhausreform muss kommen“
„Die Lage im Gesundheitswesen ist ernst, aber wenn wir die Kraft haben, jetzt weitreichende Strukturreformen anzugehen, dann werden wir in fünf bis zehn Jahren immer noch eine gute Versorgung haben. Dazu müssen wir uns trauen, auch unangenehme Wege zu gehen. Ich vermisse, dass das so wenig geschieht. Konkret muss vor allem die Krankenhausreform kommen, denn die Krankenhäuser sind der größte Kostenblock im Gesundheitswesen und wir haben trotz eines Bettenabbaus in den vergangenen Jahren immer noch Überkapazitäten.
Da der Trend in der Medizin immer mehr zu ambulanten Eingriffen geht, brauchen wir nicht mehr so viele stationäre Kapazitäten. Ich habe Sorge, dass die Krankenhausreform, so wie Karl Lauterbach sie auf den Weg gebracht hat, durch die Eingriffe der Länder immer mehr verwässert worden ist. Aber es kann doch nicht so weitergehen, dass wir die Defizite der Krankenhäuser mit immer neuen Steuermilliarden auffüllen und die Beitragssätze für die Krankenversicherung immer weiter in die Höhe klettern.“
Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der Krankenkasse Barmer in Stuttgart
Neckarsulmer Orthopäde Brand: KI kann Ärzte von bürokratischen Prozessen entlasten
„Unser größtes Problem ist der Mangel an Ärzten und qualifiziertem Fachpersonal, und der wird sich noch weiter verschärfen. Deshalb ist für mich entscheidend, wie wir es schaffen, Patienten in der zur Verfügung stehenden Zeit trotzdem gut zu versorgen. Dabei kann uns die Digitalisierung und KI helfen. Ich sehe das Potenzial, mit modernen technischen Möglichkeiten, Prozesse zu vereinfachen und uns Ärzte von Bürokratie zu entlasten.
Außerdem stelle ich mir schon die Frage, ob unser Anspruch, die Medizin müsse sich selbst finanzieren, noch zeitgemäß ist, wenn die Bevölkerung immer älter wird und immer mehr medizinische Bedarfe hat. Brauchen wir vielleicht andere Ansätze? Auch wenn ich mich unbeliebt mache: Ich bin der Meinung, es wird nicht ohne eine finanzielle Selbstbeteiligung der Patienten gehen, so steigern wir die Mitverantwortung für Gesundheitsvorsorge und Prävention.“
Dr. Boris Brand, Orthopäde in Neckarsulm und Vize-Vorsitzender des Berufsverbands der Orthopäden und Unfallchirurgen BVOU in Baden-Württemberg
SLK-Chef Georg Schmidt: Reform muss von auskömmlicher Finanzierung begleitet werden
„Deutschland verfügt nach wie vor über ein leistungsfähiges Krankenhauswesen. Gleichzeitig besteht Reformbedarf. Deshalb unterstützen wir die Ziele der Krankenhausreform grundsätzlich, insbesondere die stärkere Spezialisierung über Leistungsgruppen zur Qualitätsverbesserung und zum Abbau von Doppelstrukturen. Entscheidend ist jedoch, dass die Reform ganzheitlich gedacht und eine auskömmliche, verlässliche Finanzierung sichergestellt wird. Eine Krankenhausreform wird nur erfolgreich sein, wenn Qualität, Leistungsanforderungen und Finanzierung in Einklang gebracht werden.
In den SLK-Kliniken haben wir schon vor längerer Zeit damit begonnen, hochspezialisierte Zentren zu etablieren, um auch bei steigendem ökonomischen Druck Spitzenmedizin in der Region anbieten zu können. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels brauchen wir aber auch einen spürbaren Bürokratieabbau, realistische Personalvorgaben und beschleunigte Anerkennungsverfahren, damit mehr Zeit für die Versorgung der Patientinnen und Patienten bleibt.“
Georg Schmidt, designierter Geschäftsführer der SLK-Kliniken Heilbronn GmbH
TK-Chefin Mussa: Digital vor ambulant vor stationär
„Patientinnen und Patienten werden derzeit nicht kompetent durch unser Gesundheitssystem geleitet, sondern sind weitgehend auf sich allein gestellt. Sie müssen oft wochenlang auf einen Arzttermin warten. Sie werden häufig im Krankenhaus in der Nähe, statt in der am besten geeigneten Klinik behandelt. Sie sitzen stundenlang in einem Wartezimmer, anstatt schnell und komfortabel zu Hause via Videosprechstunde beraten zu werden. Und sie harren in einer überfüllten Notaufnahme aus, anstatt in einem integrierten Notfallzentrum mit zielgenauer Versorgung. Damit sich das ändert, müssen wir jetzt handeln und die Chancen der Digitalisierung für unser Gesundheitswesen nutzen, gemäß der Devise ‚digital vor ambulant vor stationär’.“
Nadia Mussa, Leiterin der Landesvertretung Baden-Württemberg der Techniker Krankenkasse (TK)
KVBW-Vorsitzender Braun: Schluss mit Flatrate-Mentalität
Die ambulante Medizin muss weiter gestärkt werden. Dort wird der Hauptteil der Patientenversorgung geleistet: zu günstigen Preisen, effizient und in hoher Qualität. Wir haben es deshalb sehr begrüßt, dass die Bundesregierung beschlossen hat, die Budgets der Hausärzte nicht mehr zu deckeln. Das bedeutet, dass bei Kinderärzten und Hausärzten nun alle Behandlungen zu festen Preisen bezahlt werden – zumindest weitgehend, eigentlich sollte das selbstverständlich sein. Die Maßnahme muss nun auch bei den Fachärzten folgen. Außerdem müssen die Patientenströme besser gesteuert werden. Wir müssen begreifen, dass ärztliche Leistungen, egal ob in einer Praxis oder im Krankenhaus, ein kostbares Gut sind, mit dem wir sparsam umgehen müssen.
Aktuell ist es eher so, dass über die Krankenversichertenkarte eine Flatrate-Medizin in Anspruch genommen wird. Das können wir uns nicht weiter leisten. Vor allem im Notfalldienst brauchen wir vorab eine verpflichtende Ersteinschätzung (zum Beispiel über das Telefon), bevor ein Patient in die Notaufnahme oder eine Bereitschaftspraxis kommt. Die neue Bundesregierung hat einen Entwurf für die Reform des Notdienstes vorgelegt, dieser Aspekt ist aber leider nicht enthalten.
Dr. Karsten Braun, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW)
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