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Was bedeutet überhaupt Solidarität in der Corona-Pandemie?

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Immer wieder wird in der Corona-Pandemie Solidarität eingefordert: Mit Pflegekräften, mit Kindern, mit Ungeimpften. Doch was bedeutet das überhaupt? Im Interview erklärt die Politikwissenschaftlerin Ursula Birsl, warum Solidarität Freiheit einschränkt und was die Impfquoten in Spanien damit zu tun haben.

Ursula Birsl ist Politikwissenschaftlerin an der Philipps-Universität Marburg. Sie forscht zu Demokratie, EU und dem Vergleich politischer Systeme.
Foto: Wolfgang Koch
Ursula Birsl ist Politikwissenschaftlerin an der Philipps-Universität Marburg. Sie forscht zu Demokratie, EU und dem Vergleich politischer Systeme. Foto: Wolfgang Koch  Foto: Wolfgang Koch

Ständig wird in der Corona-Pandemie Solidarität eingefordert: Mit Pflegekräften, mit Kindern, mit Ungeimpften. Doch was bedeutet das überhaupt? Das haben wir die Politikwissenschaftlerin Ursula Birsl gefragt.

 

Frau Birsl, was ist Solidarität?

Ursula Birsl: Solidarität ist ein sehr alter Begriff, den wir schon aus dem antiken römischen Recht kennen. Er bedeutet in die heutige Zeit übersetzt, zueinander zu stehen. Mit den Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert ist Solidarität wichtig geworden, als es darum ging, gemeinsam für politische Ziele und soziale Rechte zu kämpfen und Lebensweisen gemeinsam zu gestalten.

 

Wer braucht Solidarität?

Birsl: In der Pandemie sehen wir, dass es viele Menschen gibt, die Solidarität benötigen. Durch staatliches Handeln sollten Menschen in die Lage versetzt werden, aufeinander Rücksicht nehmen zu können. Dazu gehört auch der Zugang zu Impfstoffen. So sollten etwa Kinder geschützt werden, indem Erwachsene sich impfen lassen und auf Hygienekonzepte achten.

 


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Solidarität brauchen also vor allem Menschen, die benachteiligt sind?

Birsl: Genau. Solidarität bedeutet in dem Fall, dass man sich um diejenigen kümmert, die nicht die Chance haben, sich vor einer Infektion zu schützen. Und dazu beizutragen, dass Ältere und Kinder nicht gefährdet werden. Es geht nämlich auch um deren Freiheit.

 

Wie meinen Sie das?

Birsl: Freiheit bedeutet immer auch die Freiheit der anderen. Es geht nicht darum, dass ich mich ungebremst ausleben kann. Die Freiheit eines anderen Menschen zeigt meiner Freiheit Grenzen. Das gilt vor allem, wenn ich durch mein Verhalten andere in Gefahr bringe.

 

Wo endet Solidarität?

Birsl: Sie können Solidarität nicht vorschreiben. Das geht nur über ein gemeinsames Aushandeln davon, was solidarisches Handeln meint.

 

Man muss sich als Gesellschaft einig werden, wem Solidarität gebührt?

Birsl: Und wo die Grenzen sind. Man muss sich überhaupt erst einmal darüber verständigen: Was heißt Solidarität in einer Gesellschaft? Wo sind die Grenzen staatlichen Handelns, ohne die Anforderungen an Solidarität zu stark zu individualisieren und zu stark Eigenverantwortung zu beschwören?

 


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Wo liegen die Grenzen des Staates?

Birsl: Staatliches Handeln muss berücksichtigen, welches Maß an Solidarität sich aus einer Gesellschaft heraus entwickeln kann. Das ist in Spanien und Portugal anders als in Deutschland, deshalb haben wir wahrscheinlich auch so unterschiedliche Impfquoten.

 

Wieso das?

Birsl: In Spanien sind Solidarität und Gemeinsinn stark ausgeprägt. Also die Erkenntnis, dass mein Handeln etwas mit dem Gemeinwesen macht. Ähnlich ist das in Skandinavien. Das Füreinander hat dort ein größeres Gewicht als hierzulande.

 

Sich zu solidarisieren ist durch das Internet per Like so leicht wie nie.

Birsl: Das ist noch nicht Solidarität. Natürlich kann ich mich mit jemandem oder etwas solidarisch erklären. Aber dem muss etwas folgen. Eine Solidaritätsbekundung sollte mit Handeln verknüpft sein.

 

Greifen die Appelle an Solidarität in der Pandemie noch?

Birsl: Da bin ich unsicher. Solidarität bedeutet, für ein gemeinsames Ziel einzustehen. Das unterstellt aber, dass es dieses gemeinsame Ziel gibt. Politisch ist viel zu wenig getan worden, um etwa über wissenschaftliche Untersuchungen herauszufinden, wie sich Corona-Maßnahmen auf soziale Gruppen auswirken und wie Gemeinsinn entstehen und ein Füreinandereinstehen ermöglicht werden könnte.

 

Sie meinen, die Politik hat sich zu wenig mit der Bereitschaft der Menschen befasst, die Pandemie zu bekämpfen?

Birsl: Es wird viel zu wenig danach gefragt, wieso die Impfquote zu gering ist, um die vierte Corona-Welle noch rechtzeitig abzubremsen. Das wurde durch fehlende Forschung und mangelhafte politische Kommunikation versäumt.

 

Welche Fehler wurden gemacht?

Birsl: Das sehen wir jetzt wieder. Es gibt Appelle und Bedrohungsszenarien, aber es wird zu wenig erklärt und aufgeklärt, um die Menschen in die Lage zu versetzen, sich ein Urteil bilden zu können und nicht in eine Abwehrhaltung zu geraten. Erst dann können sie sich solidarisch zeigen.

 

Macht das nicht das RKI?

Birsl: Ich halte die Warnungen des RKI und von Lothar Wieler für gerechtfertigt. Aber es ist doch noch nicht aus sich heraus plausibel, wenn gesagt wird, 2G reiche nicht mehr aus. Warum nicht? War das Impfen umsonst? Eine verständliche Erklärung fehlt. So ähnlich lief die gesamte politische Kommunikation ab. Die Dramatik der Corona-Pandemie wurde nach einer Welle immer wieder heruntergespielt, um dann zu Beginn einer neuen Welle und vor jeder Bund-Länder-Runde verbal aufzurüsten. Da muss die Frage aufkommen: Warum denn jetzt plötzlich? Es ist schwierig, dann Gemeinsinn einzufordern.

 

Zur Person

Ursula Birsl (59) ist Professorin an der Philipps-Universität Marburg. Ihre Schwerpunkte sind Demokratieforschung, EU und der Vergleich politischer Systeme.

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