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Wie Neuroathletik Körper und Gehirn verbindet – „das wird ein Hype werden“

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Patrick Keicher aus Erlenbach ist Trainer für Neuroathletik und unterstützt damit mittlerweile auch Profis in der Region Heilbronn. Was steckt dahinter? Unsere Autorin hat es ausprobiert. 


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Wippend auf eine Uno-Karte starren, um sein Gleichgewicht zu verbessern. Mit zur Seite geneigtem Kopf und Vibration am Ohr mehr Stabilität in seine schwächere Körperseite bringen und damit potenziellen Verletzungen vorbeugen. Klingt komisch? Und wie, doch genau so kann Neuroathletik aussehen. „Das wird ein Hype werden“, ist sich Patrick Keicher sicher. Und er könnte Recht haben. „Wenn man es selbst getestet hat, kann man es viel besser verstehen“, sagt er und auch damit hat er recht.

Patrick Keicher ist Neuroathletiktrainer und auch ich habe mich erst einmal gefragt: Was ist das überhaupt? Obwohl ich selbst sportbegeistert und ambitionierte Läuferin bin, die meistens sehr empfänglich für neue Trainings- oder Regenerationsmethoden ist, hatte ich davon noch nie gehört. Und damit ich wirklich verstehen kann, was Neuroathletik ist, treffe ich mich mit Patrick Keicher im Sportpark Böckingen, um es selbst zu testen.

Neuroathletiktrainer Patrick Keicher mit Tennisspielerin Lorena Schädel: Er führt visuelle Übungen mit der Athletin durch, für die sie eine Augenklappe aufsetzt.
Neuroathletiktrainer Patrick Keicher mit Tennisspielerin Lorena Schädel: Er führt visuelle Übungen mit der Athletin durch, für die sie eine Augenklappe aufsetzt.  Foto: Berger, Mario

Neuronale Systeme testen, um Leistungsfähigkeit zu verbessern – oder Schmerzen zu reduzieren

Zugegeben, ich komme nicht völlig unvorbereitet in meine erste Neuroathletikstunde. In der Woche zuvor durfte ich bereits bei einer Stunde dabei sein, bei der mir Patrick Keicher auch erklärt hat, um was es eigentlich geht. „Grundsätzlich geht es bei Neuroathletik um die Informationsübertragung vom Gehirn in die Motorik, also die Bewegung. Diese Übertragung soll verbessert werden“, erklärt der 28-Jährige. Dafür testet er verschiedene „Systeme“. Das heißt: Wie ist die Empfindung bei Berührung auf der Haut, wie die Reaktion auf visuelle Reize wie das Fixieren einer Uno-Karte oder Leuchten ins Auge? Wie reagiert jemand auf Gerüche, Geräusche oder Reize wie Druck oder Vibration? 

Denn jede Anweisung für motorische Bewegung kommt aus dem Gehirn. Durch gezielte Übungen sollen bestimmte Hirnareale angesprochen werden. Patrick Keicher erklärt das so: „Unser Gehirn trifft quasi immer eine Vorhersage, was jetzt passiert oder zu tun ist. Umso schlechter die Rückmeldung durch Sensorik, also der Informationen, die zum Gehirn kommen, desto schlechter ist die Vorhersage – und desto schlechter ist die Bewegung.“

Gehört bei jeder ersten Stunde dazu: Checken, ob das Becken möglicherweise schief ist.
Gehört bei jeder ersten Stunde dazu: Checken, ob das Becken möglicherweise schief ist.  Foto: Berger, Mario

Das könne man sich wie eine 3D-Karte vom Gehirn vorstellen. Je besser diese Landkarte mit Informationen über unsere Umgebung ausgebildet sei, desto besser und vollumfänglicher seien Bewegungen möglich. Was wiederum beispielsweise Verletzungen wie Bänderrissen vorbeugen könne. Diese Rückkopplungen und neuronalen Systeme zu verbessern und so Schmerzen zu reduzieren, Leistung zu verbessern oder Bewegungen zu optimieren, ist das Ziel von Neuroathletik.

Zwar findet dieses Training immer mehr Anwendung und Aufmerksamkeit, insbesondere im Spitzensport, trotzdem ist es ein noch relativ junges Feld. Es gibt Studien, die auf eine gewisse Wirksamkeit hinweisen, eine wissenschaftliche Evidenz gibt es aber noch nicht. Aktuell zählt Neuroathletik nicht zu kassenärztlichen Leistungen.

Neuroathletiktrainer aus Erlenbach: Zusammenarbeit mit Profis aus der Region

Zu den Kunden des Erlenbachers gehören zum großen Teil Sportler, aber ebenso Nicht-Sportler und ältere Menschen mit diversen Beschwerden. Mittlerweile arbeitet Patrick Keicher auch mit Profis aus der Region zusammen: Seit dieser Saison betreut er die Bundesliga-Handballerinnen aus Neckarsulm mit. Je nach Bedarf kommen die Spielerinnen zu ihm ins Training.

Auch die 24-jährige Tennisspielerin Lorena Schädel, die in der 2. Bundesliga spielt, arbeitet mit Keicher seit einem Jahr zusammen. Ihre Bilanz: „Ich war schon sehr positiv überrascht, auch direkt nach der ersten Einheit.“ Lorena Schädel kam nicht mit einem akuten Problem, sondern wollte einfach fitter werden und ein höheres Spielpensum verarbeiten können. Das Training hat dabei geholfen, erzählt sie. 

Athletin Lorena Schädel fixiert mit nach rechts geneigtem Kopf eine Uno-Karte.
Athletin Lorena Schädel fixiert mit nach rechts geneigtem Kopf eine Uno-Karte.  Foto: Berger, Mario

Patrick Keicher selbst ist durch einen schweren Radunfall zur Neuroathletik gekommen. Er kommt aus dem Leistungssport, hat Straßenradfahren auf Profiniveau betrieben, wie er erzählt. Als er nach seinem Unfall als austherapiert gilt, hat ihn das nicht zufriedengestellt. „Die Ärzte haben gesagt, ich solle doch froh sein, dass ich wieder laufen könne. Aber das allein war nie mein Anspruch.“ Nach der Reha habe er sich allein gelassen gefühlt und kam durch einen befreundeten Physiotherapeuten auf das Thema Neuroathletik.

Er ist für sich selbst dran geblieben und fährt heute wieder ambitioniert Rad – wenn auch nicht im Profibereich. „Ich habe mir gedacht, dass ich Leuten helfen will, die vielleicht auch mal in so einer Situation sind wie ich“, erzählt er. Dabei will er weder ärztliche Behandlung, Physiotherapie noch Sport ersetzen – sondern eine Ergänzung sein. 

Neuroathletik im Test: Spürt man wirklich einen Effekt?

Zurück zu meiner Neuroathletikstunde. Ich habe keine akute Verletzung, aber Schwachstellen, die ich Patrick Keicher auch schildere: mein Gleichgewicht, mein leicht schiefes Becken, meine immer wieder Zwicken in den Schienbeinen, vor allem links.

Also testet er erstmal. wie gut mein Fühlsinn an den Schienbeinen ist – links deutlich schlechter als rechts. Auch mein links höher gestelltes Becken kann er schnell erkennen, mein schlechteres Gleichgewicht rechts ist durch Sprungübungen nicht zu übersehen. Als Folge testet er erstmal, wieviel Widerstandskraft ich in meinen Händen habe. Mit nach vorne gestrecktem Arm und nach oben gerichteter Hand drückt Patrick Keicher mit aller Kraft gegen meinen Handrücken.

Links kann ich gegenhalten, rechts überhaupt nicht, wie ich etwas entgeistert feststelle. Also soll ich so schnell es geht mit der Hand auf meinen linken Oberschenkel klopfen, was für mich erst einmal keinen Sinn macht. Dann wippend mit nach rechts geneigtem Kopf eine Unokarte fixieren. „Jetzt spring nochmal.“ Ich springe und lande erst auf dem linken Bein erwartet sicher – und dann unerwartet sicher auf dem rechten Bein. Der Unterschied fühlt sich für mich nicht minimal, sondern so immens an, dass mir das Staunen wohl ins Gesicht geschrieben steht. Auch bei der Übung für den Kraftwiderstand in den Händen kann ich rechts plötzlich nahezu problemlos gegenhalten. 

Bilanz: Etwas absurd, aber im positiven Sinn

Es folgen Übungen mit nach rechts geneigtem Kopf und Gewicht auf der linken Schulter, wippend soll ich durchlaufende Tierreihenfolgen auf dem Smartphone fokussieren oder mit Vibrationsfrequenzen im Ohr rückwärts durchs Studio gehen. Ich kann die Verbesserungen in Gleichgewicht, Fühlsinn und Beckenschiefstand so schnell wahrnehmen, dass es mir selbst etwas surreal vorkommt. Aber eine Wunderheilung ist es nicht: Die Effekte sind kurzfristig, für langfristige Erfolge, muss man, ganz wie beim Physiotherapeuten, die jeweiligen Übungen als Hausaufgaben weitermachen. „Es gibt nicht die eine Übung, jede Person ist ganz individuell und so möchte ich auch mit ihr arbeiten“, betont Patrick. Es wird getestet, ausprobiert und sich vorgearbeitet. 

Ich persönlich hatte höchstens damit gerechnet, positiv überrascht aus meiner ersten Neuroathletikstunde zu kommen, aber bestimmt nicht beeindruckt. Doch das war ich, weil die Übungen teilweise so absurd und die Effekte dann trotzdem so deutlich spürbar waren. Für mich steht fest, dass es definitiv nicht die letzte Stunde war. 

Patrick Keicher kommt aus Erlenbach und ist 28 Jahre alt. Er ist studierter Maschinenbauingenieur, doch seine große Leidenschaft gilt dem Sport. Im August 2024 hat er sich als Athletik- und Neuroathletiktrainer selbstständig gemacht, seit Anfang 2025 ist er vollumfänglich in die Selbstständigkeit gestartet. Die Qualifikationen hierfür hat er unter anderem durch ein zwei Jahre dauerndes Fernstudium erlangt, im Bereich Neuroathletik bildet sich Patrick Keicher nach wie vor weiter. 

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