Verhafteter Psycho-Coach aus Walldürn war bei Sektenberatung bekannt
Betroffene im Umfeld eines mutmaßlichen Serienvergewaltigers sprechen von Manipulation und Gruppendynamik. Sie berichten: Sektenberatungen waren über den Mann informiert.
Mit der Festnahme eines 37-jährigen Mannes in Walldürn endete abrupt eine besorgniserregende Entwicklung, die schon Jahre andauerte und in Fachkreisen offenbar bekannt war. Familienangehörige von Betroffenen meldeten sich bei Sektenberatungen. Doch dort, sagt ein Familienangehöriger eines heute volljährigen Kindes, habe man immer wieder darauf verwiesen, dass gegen den selbsternannten Persönlichkeitscoach und Mentor nichts Justiziables vorliege. Die Menschen müssten sich selbst von ihm befreien.
„Wir sind sehr froh, dass das nun ein Ende hat“, sagt der Familienangehörige weiter. Er möchte anonym bleiben, um die mit ihm verwandte Person zu schützen. Sie als Familie hätten sich lange nicht zu helfen gewusst, berichtet er. Sie verloren immer mehr den Kontakt. Letztlich sei das Kind den Anweisungen des „Wohnzimmer-Gurus“ – wie der Angehörige den Beschuldigten nennt – gefolgt. Die Anweisungen lauteten: erstmal Kontakt zur Familie abzubrechen.
Verletzlichkeit wurde ausgenutzt
Offenbar kamen einige junge Menschen über das Interesse an veganer Ernährungsberatung zur Gruppe. Sie gerieten in eine Onlineszene, die sie an den angeblichen Persönlichkeitscoach vermittelte. Warum genau aber viele Betroffene in den Bann dieses Mannes gezogen wurden, könne er bis heute nicht genau verstehen, sagt der Familienangehörige. Die Menschen in dessen Umfeld verbinde, dass sie alle in einer Lebenskrise steckten – und dies sei ausgenutzt worden. „Er gab ihnen einfache Antworten auf die schwierigen Fragestellungen des Lebens.“
Im Gespräch mit einem Experten für Sektenstrukturen habe er verstanden, dass jeder Mensch, der verletzlich ist, ein potenzielles Opfer für Psycho-Coaches sein kann. Ihn aber habe erstaunt, dass Business und an Geld gelangen das große Thema der Szene gewesen sei und nichts Esoterisches oder Spirituelles. Für die Teilnahme an sogenannten Boot-Camps bezahlten einige Mitglieder Tausende Euro. Sie seien Jahresverträge eingegangen.
Wie berichtet, hatte vergangenen Woche die Nachricht den Wallfahrtsort Walldürn erschüttert: Der 37-Jährige wurde festgenommen, weil Ermittler ihm zur Last legen, über Tage hinweg eine 26-Jährige als Geisel genommen und vergewaltigt zu haben. Zudem gibt es weitere mutmaßliche Opfer. Der Beschuldigte ist in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. In dessen Umfeld ist von einer schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörung die Rede. Seinem Bruder wird Beihilfe vorgeworfen.
Frau berichtet von Drogenkonsum
Bei der Sektenberatung in Essen habe man mit dem Namen des Beschuldigten gleich etwas anfangen können, berichtet der Familienangehörige. Andere Familien hätten sich bereits vor ihnen gemeldet. Als zu Beginn des Jahres die Frau des 37-Jährigen aus dem Haus in Walldürn-Altheim auszog, war abzusehen: „Jetzt stürzt das Kartenhaus bald ein.“ Bereits in den Monaten zuvor sei alles immer extremer geworden. Der Beschuldigte führte polyamore Beziehungen. Wenn eine Frau Sex verweigere, dann habe ein Mann das Recht, sich diesen zu nehmen, hatte er öffentlich gesagt.
Eine Frau, die nach eigenen Angaben ebenfalls eine Zeit lang in dem Haus in Altheim lebte, berichtet von Drogenkonsum. Der Mann habe Speed und Steroide konsumiert, sagt sie. In den vergangenen Monaten sei er zunehmend einer Spielsucht verfallen und bot nun stundenlange Livegaming-Streams an. Das Umfeld um ihn herum habe sich verkleinert. „Dass er drauf ist, sieht man auch in den Livestream-Videos“, sagt sie. Auch andere im Umfeld hätten Speed konsumiert. „Sie sind alle immer mehr übergeschnappt.“
Erst Lovebombing, dann Angst
Es sei aus ihrer Sicht heute gar nicht so genau zu sagen, wer Opfer und wer Täter sei. Oftmals sei Sex mit dem Beschuldigten einvernehmlich gewesen. Auch sie habe sich anfangs zu ihm hingezogen gefühlt, später aber Abstand genommen. Auch sie habe sich an eine Sektenberatung gewandt, schildert die Frau.
Zunächst sei es mit Lovebombing losgegangen, schildert der Angehörige des heute erwachsenen Kindes die Abläufe in der Gruppe und ihre Dynamik. Vertrauen sei geschaffen worden. Die Teilnehmer seien mit Lob überhäuft und Zuneigung sei ihnen vorgegaukelt worden. Später kamen die finanziellen Verträge ins Spiel und ganz zum Ende habe Angst eine große Rolle gespielt. Angst, bei Nichtbefolgen von Anweisungen aus der Gruppe verstoßen zu werden. „Genau so funktionieren Sekten“, sagt er. Bis heute sei der Kontakt zum betroffenen Kind schwierig und wenig. Die Jahre der Manipulation hätten zu Wesensveränderungen geführt. Die aktuellen Entwicklungen, hofft er, könnten positiven Einfluss nehmen. „Momentan wirken alle in der Gruppe sehr erschrocken.“