Steigende Flüchtlingszahlen treiben Politik und Gesellschaft um
Die Flüchtlingszahlen steigen - und auch die Probleme damit werden größer. Zum zweiten Mal lädt die Landesregierung an diesem Montag zu einem Flüchtlingsgipfel.
Die grün-rote Landesregierung steht beim Flüchtlingsgipfel unter großem Druck. An allen Ecken und Enden gibt es Probleme, vor allem bei der Unterbringung von Asylbewerbern. Rund 70 Vertreter von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wollen heute über die steigenden Flüchtlingszahlen beraten.
Damit mehr Asylbewerber in den Unterkünften leben können, sollen die Kommunen bei den Quadratmetervorgaben entlastet werden. Die für Anfang 2016 vorgesehene Regelung, nach der die Mindestwohnfläche für Flüchtlinge von 4,5 auf 7 Quadratmeter steigen soll, werde ausgesetzt, sagte Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) gestern.
„In begründeten Fällen wie Platzmangel sieht das Gesetz Ausnahmen vor.“ Zudem will die grün-rote Regierung eine „Task Force“ für alle Flüchtlingsfragen schaffen.
Um die angespannte Lage in der Lea in Ellwangen zu erleichtern, haben am Samstag in Neuenstadt rund 120 Einsatzkräfte von Feuerwehr, Technischem Hilfswerk und Deutschem Roten Kreuz auf dem Gelände der ehemaligen Autobahnmeisterei eine Zeltstadt für bis zu 200 Flüchtlinge aufgebaut (wir berichteten). Der Stuttgarter Regierungsvizepräsident Christian Schneider sprach von einer Notlösung, die Obdachlosigkeit verhindere. Anfang der Woche werden die ersten Asylbewerber erwartet.
In Bruchsal richtete das Regierungspräsidium Karlsruhe gestern in der Landesfeuerwehrschule eine Notunterkunft für etwa 200 Flüchtlinge ein.
Fragen und Antworten
Fragen und Antworten zu einem Thema, das zunehmend Politik und Gesellschaft beschäftigt.
Wie viele Flüchtlinge kommen in diesem Jahr?
Nach den offiziellen Zahlen muss Baden-Württemberg im laufenden Jahr mit rund 52.000 neuen Flüchtlingen rechen. Die Kommunen gehen aber davon aus, dass es bis zu 80.000 sein könnten - das wäre eine Verdreifachung der Zahlen aus dem vergangenen Jahr.
Wie werden Flüchtlinge untergebracht?
Nach ihrer Ankunft kommen sie in Erstaufnahmestellen des Landes (Lea) unter. Danach werden sie auf die Kommunen verteilt - optimalerweise nach drei Monaten und einem bearbeiteten Asylantrag. Nach Angaben von Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) gibt es derzeit rund 9000 Erstaufnahmeplätze - einschließlich diverser Notunterkünfte.
Wo liegen die Probleme bei der Unterkunft?
Die Erstaufnahmestellen sind völlig überfüllt. In Freiburg und Tübingen sind bereits Traglufthallen zur Unterbringung geplant. Da die Bearbeitung der Asylanträge derzeit im Schnitt rund sieben Monate dauert und Platz für neue Flüchtlinge in den Erstaufnahmestellen geschaffen werden muss, werden viele Flüchtlinge in die Kommunen weitergeschickt, deren Status ungeklärt ist. Manche sind nicht einmal identifiziert und gesundheitlich untersucht. Die Kommunen selber haben auch große Probleme bei der Suche nach Wohnraum.
Welche Probleme gibt es im zwischenmenschlichen Umgang?
Städtetagspräsidentin Barbara Bosch (parteilos) sagt: „Ich mache mir Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den gesellschaftlichen Frieden.“ Sie berichtet von Flüchtlingen, die einfach Fenster aus dem Müll werfen oder ihre Notdurft im Freien verrichten und von Baden-Württembergern, die um den Wert ihrer Häuser fürchten, wenn mehr Flüchtlinge in die Nachbarschaft kommen. Ministerin Öney räumt ein, dass manche Asylbewerber Frauen belästigen. In Heidelberg sprechen Bürger von katastrophalen Zuständen und schlimmen hygienischen Bedingungen in der Flüchtlingsunterkunft und von einer steigenden Kriminalität. In Remchingen (Enzkreis) ging vor kurzem eine geplante Flüchtlingsunterkunft in Flammen auf - es war Brandstiftung.
Was sind die Vorwürfe gegen die grün-rote Landesregierung?
Die Opposition und die Kommunen halten der Regierung vor, nicht früh genug auf die steigenden Flüchtlingszahlen reagiert und kein Gesamtkonzept zu haben. CDU-Landesvize Winfried Mack erinnert daran, dass die Landesregierung den Leas in Meßstetten, Ellwangen und der Notunterkunft in Heidelberg vertraglich Höchstgrenzen an Flüchtlingen zugesichert habe. „Wenige Wochen später wurden die öffentlich-rechtlichen Verträge von der grün-roten Regierung gebrochen. Die Bürger dieser Kommunen fühlen sich verschaukelt.“ Dies mache es auch schwerer, neue Standorte für Leas zu finden.
Wie reagiert Landesregierung?
Grün-Rot beteuert, dass der Anstieg der Flüchtlingszahlen in diesem Ausmaß nicht vorhersehbar gewesen sei. Zudem liege das Nadelöhr bei der Bearbeitung der Asylanträgen - und somit primär beim Bund. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird personell aufgestockt -aber das dauert. Ein Berg von mehr als 20 000 Asylanträgen wartet allein im Südwesten noch auf Bearbeitung. Im Herbst lud Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zu einem ersten Flüchtlingsgipfel ein. Zu den Ergebnissen gehörten neue Plätze in Notunterkünften zu schaffen, mehr Personal zur Verfügung zu stellen sowie ein Sonderbauprogramm mit einem Volumen von je 15 Millionen Euro für 2015 und 2016. Am vergangenen Freitag kündigte Ministerin Öney an, dass bis zum Winter 5700 neue Erstaufnahmeplätze geschaffen werden sollen. Zudem will die Regierung eine „Task Force“ einsetzen.
Was kann die Politik noch tun?
Auch in der Landesregierung setzt sich zunehmend die Meinung durch, dass stärker zwischen Asylbewerbern unterschieden werden muss, deren Anträge absehbar keine Aussicht auf Erfolg haben und denen, die wohl bleiben dürfen. Es wird zu mehr Abschiebungen kommen müssen - die Zahlen steigen bereits. Regierungschef Kretschmann regte an, angesichts leerstehender Wohnungszüge im Osten Deutschlands über eine andere Verteilung der Flüchtlinge in Deutschland nachzudenken, erntete dafür aber bereits Kritik. Baden-Württemberg nimmt derzeit rund 13 Prozent der Asylbewerber auf. Zudem wird über die Einstufung weiterer Balkan-Staaten zu sicheren Herkunftsländern diskutiert, in die abgelehnte Asylbewerber leichter zurückgeschickt werden können. Ob solche Maßnahmen den gewünschten Erfolg bringen, ist umstritten. lsw/wom
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Entwicklung der Asylbewerberzahlen