Stimme+
Gericht in Stuttgart
Lesezeichen setzen Merken

Prozess nach Eritrea-Ausschreitungen: Polizeibeamter spricht von Selbstmordkommando

   | 
Lesezeit  2 Min
Erfolgreich kopiert!

Nach den Eritrea-Ausschreitungen vom September hat der erste Prozess in Stuttgart begonnen. Ein Polizeibeamter schildert dramatische Szenen.

Zur Verstärkung gerufene Polizeibeamte führen am 16. September in Stuttgart einen Mann ab.
Foto: dpa
Zur Verstärkung gerufene Polizeibeamte führen am 16. September in Stuttgart einen Mann ab. Foto: dpa  Foto: Jason Tschepljakow

Die Szenerie im Innenhof des Stuttgarter Veranstaltungszentrums Römerkastell kippt an diesem Septembertag von einer Sekunde auf die andere in einen Gewaltausbruch. Gerade schlendern noch Passanten über den sonnenbeschienenen Innenhof, da entsteht Tumult um eine große Gruppe von meist jungen Männern, die demonstrierend in den Innenbereich strömt und offenbar einen Veranstaltungsraum im Blick hat. Die Kamera zoomt heran, Polizisten laufen durchs Bild, plötzlich fliegen Gegenstände durch die Luft.

Aufnahmen zeigen einen brüllenden Mob, der sich mit Material aus der angrenzenden Baustelle bewaffnet. Verwackelte Videoaufnahmen – teils von Passantenhandys, teils von Bodycams der Polizei – zeigen, wie Zaunlatten, Metallstangen, Pflastersteine, Absperrungen und Stühle geschwungen werden und durch die Luft fliegen. Menschen flüchten, rennen durcheinander, stürzen, brüllen, die Lage ist unübersichtlich. Einzelne Polizeibeamte sehen sich Angreifern mit Zaunlatten gegenüber, sie flüchten, sie tragen weder Helm noch Schutzmontur. Es sind Jagdszenen.


Prozessauftakt in Stuttgart: Beamte sagen zu Eritrea-Ausschreitungen aus

"O mein Gott, guck dir das an, die sind ja überhaupt nicht geschützt", sagt eine weibliche Stimme auf einer Handyaufnahme, aufgenommen aus einem angrenzenden Haus. Männer brüllen "Weg, weg"; Polizeibeamte stolpern, versuchen, sich zu formieren, die Angreifer zurückzudrängen, versprühen Pfefferspray, bewaffnen sich mit Schutzschilden.

Wie gefährlich die Lage vor Ort für die Polizeibeamten war, schilderte vor Gericht ein 22-jähriger Polizeihauptmeister, der mit einer kleinen Gruppe Kollegen mitten in das Getümmel geriet, dramatische Szenen erlebte und deutlich machte, wie unvorbereitet die Beamten war. "Gefühlt war es ein Selbstmordkommando, vorzugehen und den Eingangsbereich zu sichern", sagte er.

Eskalation in Stuttgart: Nach gewaltvoller Eritrea-Veranstaltung beginnt der Prozess

Detailbilder zeigen aus der Menge einen Mann mit markant ausrasierten Schläfen und einem Kinnbart, der mal eine Eisenstange in der Hand hat, mal mit dem Handy filmt, und dann einen 2,5 Kilo-Betonfuß hochstemmt und auf Polizeibeamte wirft. Der Mann ist, ist sich die Polizei sicher, Merhawi B., 29 Jahre alt, eritreischer Staatsbürger, gemeldet zuletzt in Laichingen (Alb-Donau-Kreis) und seit einem Monat in Untersuchungshaft.

An diesem Donnerstag, 29. Februar, begann unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen im Hochsicherheitstrakt der JVA Stuttgart-Stammheim, ausgelagert vom zuständigen Amtsgericht Bad Cannstatt, der Prozess gegen Merhawi B. Der eritreische Staatsbürger ist angeklagt des besonders schweren Landfriedensbruchs, der gefährlichen Körperverletzung und des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, und er soll mit als einer der ersten an der Eskalation vom 16. September 2023 im Römerkastell beteiligt gewesen sein, die als Eritrea-Ausschreitungen bundesweit Schlagzeilen machten. Es droht ein Strafmaß von bis zu zehn Jahren Haft.

Auseinandersetzungen und Gewalt: Zwischen Eritreern in Stuttgart eskaliert es häufiger

Schon mehrfach hatte es zuvor andernorts heftige gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen zwei Lagern von Eritreern gegeben – die einen geflohen und verfolgt vor dem diktatorischen Regime ihrer afrikanischen Heimat, die andern regimetreu, bei Kulturfesten und Veranstaltungen Unterstützung für das Regime zeigend. Doch in Stuttgart zeigte sich die Polizei im September völlig unvorbereitet – nur wenige Beamte waren vor Ort, mit einer Eskalation rechnete offenbar niemand. Ein Eritrea-Fest in Stuttgart einige Tage später wird abgesagt.

Auch Merhawi B. soll der Anklage zufolge an diesem Samstag eigens nach Stuttgart gefahren sein, um die Veranstaltung regimetreuer Landsleute im Römerkastell zu stören. Als erstem Tatverdächtigen wird ihm nun der Prozess gemacht, weitere Prozesse sind bereits terminiert, Hunderte weiterer Prozesse könnten folgen. Der Angeklagte Merhawi B. selbst äußerte sich am Donnerstag nicht. Der Prozess wird am kommenden Freitag fortgesetzt.

Die Ausschreitungen rund um eine Veranstaltung von Eritreern am 16. September 2023 in Stuttgart hatten bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Im Nachgang wurden bislang nach Angaben des Polizeipräsidiums Stuttgart über 270 ganz überwiegend männliche Personen als Beschuldigte ermittelt. Mehr als zwei Drittel von ihnen haben ihren Wohnsitz in Deutschland, etwa 60 in der Schweiz. In etlichen Fällen dauern die Ermittlungen nach wie vor an. 39 Polizeibeamte wurden bei den Ausschreitungen körperlich verletzt, davon waren zehn Beamte zeitweise dienstunfähig.

  Nach oben