Europaweite Fahndung nach Flucht: Warum ein verurteilter Mörder Ausgang erhält
Ein Mann, der wegen schweren Mordes im Gefängnis sitzt, flüchtet beim Freigang unter Aufssicht. Nun muss die Justiz vor allem eine Frage klären: Wie konnte das passieren?
Es sollten ein paar Stunden Normalität werden – ein Treffen mit Ehefrau und den beiden minderjährigen Kindern außerhalb der Gefängnismauern der JVA Bruchsal, in der Aleksandr Perepelenko seit 2012 einsitzt. Wegen Mordes wurde der heute 43-jährige Deutsch-Kasache zu lebenslanger Haft mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld verurteilt, schon zuvor hatte er fünf Jahre wegen Totschlags im Gefängnis gesessen.
Europaweite Fahndung nach Flucht: Warum ein verurteilter Mörder Ausgang erhält
Am Montagmittag aber nutzte Perepelenko die Gelegenheit während der von zwei JVA-Beamten begleiteten Ausführung und flüchtete in ein Waldstück beim Sollachsee in der Nähe des rheinland-pfälzischen Germersheim, rund 30 Kilometer von der JVA Bruchsal entfernt. Die elektronische Fußfessel, die er trug, wurde später im Stadtgebiet von Germersheim gefunden. Seitdem läuft eine Großfahndung nach Perepelenko – sogar europaweit. Doch bis zum Freitagabend fehlte von ihm jede Spur.
Seither müssen sich nicht nur Polizei und Staatsanwaltschaft Pforzheim, in deren Zuständigkeit der Fall liegt, sondern vor allem auch Thomas Weber, Leiter der JVA Bruchsal, unzähligen Anfragen zum Hergang und den Umständen der Flucht stellen. Wie kann es sein, dass ein zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder, dessen Mindesthaftstrafe von 15 Jahren erst im Oktober 2028 ausläuft und der im geschlossenen Vollzug ist, zum Ausgang in ein Naherholungsgebiet darf?
Rechtlich war der Ausflug zum Baggersee korrekt
Vereinfacht lautet die Antwort: Weil das baden-württembergische Justizvollzugsgesetz dies so vorsieht, wenn alle entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind. Es darf kein noch so geringes Anzeichen für eine Fluchtgefahr oder Gefährdung anderer geben, der Gefangene muss auch in der Haft voll kooperieren. Doch Perepelenko hatte alle Hürden genommen. Seit Oktober 2019 war er laut JVA-Chef Weber achtmal in Begleitung von zwei oder drei Vollzugsbediensteten beim Ausgang, stets ohne jegliche Beanstandung. Immer dabei: Seine Ehefrau und die beiden minderjährigen Kinder. Nichts hatte auf eine Flucht hingedeutet.
Der Termin am Sollachsee sei eine "vollzugsöffnende Maßnahme im Sinne des Justizvollzugsgesetzes" gewesen, sagt Weber. Demnach darf ein Gefangener in bestimmten Fällen für eine bestimmte Tageszeit die JVA unter Aufsicht verlassen. "Bei Gefangenen, die eine mehrjährige oder auch lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen, besteht nach neuer Rechtsprechung in etwa ab vier Jahren Haftdauer ein Anspruch auf solche Maßnahmen zur ‚Erhaltung der Lebenstüchtigkeit", wenn eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr konkret nicht festgestellt werden kann", so Weber.
Ausbruch aus JVA – auch am Samstagmittag Mörder weiterhin auf der Flucht
Nach Angaben des Landeskriminalamts in Stuttgart vom Freitag gingen Ermittler zuletzt rund 50 Hinweisen nach. Darunter seien auch Aussagen von Zeugen, die den flüchtigen Mörder gesehen haben wollen. Es werde in alle Richtungen und teils auch verdeckt ermittelt, teilten Polizei und Staatsanwaltschaft am Freitag mit.
Was ein Experte sagt
Die elektronische Fußfessel, die Perepelenko trug, sei ordnungsgemäß angelegt und kontrolliert worden. "So eine Fußfessel ist gegen Manipulation und unerlaubtes Entfernen gesichert - eigentlich. Aber wenn einer Schmerzen aushält und an ein Messer oder entsprechendes Werkzeug kommt, lässt sie sich auch entfernen", sagt Michael Schwarz, Landesvorsitzender der Justizvollzugsbeamtengewerkschaft in Baden-Württemberg. Er kann das Szenario, das sich in Germersheim ereignet hat, aus langjähriger Praxis gut einschätzen. Für die Begleitbeamten ein Alptraumszenario, glaubt Schwarz.
"Ich habe zuerst an die Kollegen gedacht, als ich davon hörte. Da hat man das Gefühl, dass das nicht wahr sein darf, wenn einer wegrennt, man muss hinterher und gleichzeitig Alarm schlagen und andere Kräfte verständigen, und dann hat man das Gefühl, versagt zu haben. Obwohl man nichts dafür kann", sagt Schwarz. Immerhin seien die Beamten nicht verletzt worden. Ganz sicher sein, dass bei einem Ausgang nichts passiere, könne man trotz aller vorhergehenden Prüfsteine nie: "Ein Restrisiko bleibt. Dann ist es eben wie bei dem Lied: Tausendmal ist nichts passiert – und dann passiert es eben doch."

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