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Aktionen der Klima-Aktivisten sind umstritten: Wie lange dürfen sie weggesperrt werden?

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Sie blockieren den Straßenverkehr und beschädigen Kunstwerke: Bayern bringt Mitglieder der "Letzten Generation" bis zu 30 Tage hinter Gitter. Baden-Württemberg greift zu weniger drastischen Mitteln.

Polizeieinsatz am Stachus: In München blockieren Mitglieder der "Letzten Generation" die Straße.
Polizeieinsatz am Stachus: In München blockieren Mitglieder der "Letzten Generation" die Straße.  Foto: Matthias Balk

Wie lange sollen Menschen in einem Rechtsstaat vorbeugend ins Gefängnis gesperrt werden dürfen, nur auf richterlichen Beschluss hin, ohne Prozess? Die Frage wird kontrovers diskutiert. Ausgelöst durch das Vorgehen der Klimabewegung "Letzte Generation".

Aktivisten beschädigen Kunstwerke in Museen. Sie kleben sich auf den Straßen fest und legen Flughäfen lahm. Politiker und Juristen streiten außerdem über die Frage, ob Straftatbestände wie Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und Nötigung erfüllt sind.

Klima-Aktivist berichtet von großem Zulauf

Raúl Semmler (38) meint, dass die Debatten und die mediale Aufmerksamkeit dem Ansehen der Klimaaktivisten zumindest nicht schadet. "Wir haben großen Zulauf", sagt der Pressesprecher der "Letzten Generation" Baden-Württemberg. Dies liege daran, dass protestierende Menschen kriminalisiert würden und in Bayern deshalb im Gefängnis landeten.


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Die Aktivisten kündigen für die kommenden Wochen verstärkt Aktionen an. Die Schwerpunkte sollen wie bisher in Berlin und München liegen, sagt Semmler. Ob und welche Proteste in Süddeutschland geplant sind, lässt er offen. Ihm zufolge beteiligen sich 700 bis 750 Menschen bundesweit an den Aktionen der Protestbewegung. Auch in Heilbronn gebe es eine "Keimzelle", sagt Semmler, ähnlich einer Ortsgruppe. Es handle sich um Menschen, die Vorträge und Aktionstrainings organisierten. Eine derartige Veranstaltung hat vor wenigen Wochen eine Handvoll Interessierte ins Soziale Zentrum Käthe in der Wollhausstraße gezogen.

Etwa 50 Aktionen bisher in Baden-Württemberg

Die Aktionen der "Letzten Generation" gehen einigen Bürgern und Politikern zu weit. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt beispielsweise warnt vor einer "Klima-RAF" und erhält für seinen Vergleich heftigen Gegenwind. Vor Jahrzehnten ermordete die linke Terror-Gruppe Rote Armee Fraktion (RAF) Funktionäre und Politiker und verübte Bombenanschläge.

Für Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) sind Mitglieder der "Letzten Generation" Straftäter. Dem Landesinnenministerium sind dieses Jahr etwa 50 Aktionen der Gruppe in Baden-Württemberg bekannt. "Dies waren überwiegend Straßenblockaden, Lebensmitteldiebstähle samt anschließender Verteilung der Lebensmittel sowie Plakatierungen und Versammlungen", sagt Pressesprecher Carsten Dehner. Nach Erkenntnissen der Polizei aus Einsatzlagen gehöre eine niedrige dreistellige Zahl unterschiedlicher Personen aus dem Land zu der Gruppe. Einige von ihnen seien mehrfach in Erscheinung getreten.

Bayern hat ein scharfes Polizeigesetz

Die Meinungen über die Taten der Klimabewegung gehen in der Bevölkerung weit auseinander. Genauso unterschiedlich handhaben die Bundesländer den Gewahrsam. In Bayern geht er am weitesten. Dort erlaubt es das Polizeiaufgabengesetz, Menschen bis zu einem Monat lang vorbeugend einzusperren mit der Option, den Arrest um weitere 30 Tage zu verlängern. Michael Siefener, Pressesprecher des Staatsministeriums für Inneres, versichert mit Blick auf die Proteste: "Ein Gewahrsam von bis zu 30 Tagen wird die absolute Ausnahme bleiben."

Beamte der Bundespolizei und ein Sicherheitsmitarbeiter des Flughafens in Berlin verhindern, dass Protestierende das Rollfeld stürmen.
Beamte der Bundespolizei und ein Sicherheitsmitarbeiter des Flughafens in Berlin verhindern, dass Protestierende das Rollfeld stürmen.  Foto: Paul Zinken

Baden-Württemberg begrenzt ihn auf zwei Wochen. Eine Präventivhaft, wie sie Bayern vorsieht, gibt das baden-württembergische Gesetz nicht her. Aktivist Semmler berichtet, in Baden-Württemberg würden Aktivisten "maximal bis Ende des Folgetags" in Gewahrsam genommen. Meist dauere er wenige Stunden.

Staatsministerium nennt keine Zahlen

Wie viele Klimaaktivisten in Bayern in der Vergangenheit inhaftiert worden sind, kann das bayerische Staatsministerium nicht sagen. "Selbstverständlich wird jede Gewahrsamnahme bei der Polizei dokumentiert", teilt Pressesprecher Siefener mit. Allerdings seien automatisierte Recherchen technisch nicht möglich. Wie lange Menschen also im Durchschnitt in Gewahrsam sitzen, wer - außer Klima-Aktivisten - die Betroffenen sind, bleibt offen.

Landesverfassungsschutz beobachtet Gruppe nicht

Die "Letzte Generation" trete öffentlichkeitswirksam und teilweise auch strafrechtlich relevant in Erscheinung, heißt es im baden-württembergischen Innenministerium. "In ihrer Selbstdarstellung propagiert die Gruppierung zwar gewaltfreie Aktionen des zivilen Ungehorsams, doch die tatsächlichen Auswirkungen ihres Handelns in der Praxis bergen neben strafrechtlichen auch gefährdungsrelevante Aspekte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung", sagt Pressesprecher Dehner. Ein Fall für den Landesverfassungsschutz stelle die Gruppe allerdings nicht dar.

Polizei nimmt jeden Tag Menschen in Gewahrsam

Unabhängig von umstrittenen Klimaprotesten - jemanden in Gewahrsam zu nehmen, ist ein gängiges Mittel in der täglichen Polizeiarbeit. Betrunkene etwa, die die öffentliche Ordnung stören oder sich selbst gefährden, kommen vorübergehend in die Zelle. Ignoriert beispielsweise ein prügelnder Mann ein bestehendes Kontaktverbot, kann ihn die Polizei vorübergehend außer Gefecht setzen. Im Zuständigkeitsbereich des Heilbronner Polizeipräsidiums sei in den zurückliegenden zwölf Monaten in mehr als 1000 Fällen ein Gewahrsam angedroht oder tatsächlich vollzogen worden, teilt Polizeisprecher Daniel Fessler mit.

Jura-Professor kritisiert Bayern

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) forderte vor einigen Tagen eine einheitliche Linie der Bundesländer in Fragen der Präventivhaft. Geht es in Baden-Württemberg nach dem Willen von Polizeigewerkschaften, werden Klimaaktivisten ohne Prozess für eine gewisse Zeit in die Zelle gesteckt - nach dem Vorbild Bayerns.

Sie kleben sich an Kunstwerken fest, werfen Kartoffelbrei und Tomatensoße gegen Gemälde und ernten dafür heftige Kritik.
Sie kleben sich an Kunstwerken fest, werfen Kartoffelbrei und Tomatensoße gegen Gemälde und ernten dafür heftige Kritik.  Foto: Sebastian Kahnert

Professor Markus Krajewski kritisiert die bayerische Praxis. Der 53-Jährige lehrt an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen Öffentliches Recht und Völkerrecht. Er und eine Gruppe Studierender setzten sich mit dem Polizeigesetz auseinander und reichten schon vor einigen Jahren Klage vor dem bayerischen Verfassungsgerichtshof ein. "Was mich wundert, ist, dass die 30 Tage Gewahrsam, die etwa für Terroristen gedacht waren, jetzt bei Klimaprotesten verhängt werden", sagt Krajewski. "Der Unterbindungsgewahrsam wird nicht genutzt, um Straftaten zu verhindern, sondern um Leute zu sanktionieren."

Er hält nicht jede störende und gewaltsame Form des Protests der "Letzten Generation" für angemessen. Dennoch würden bei den Aktionen der Klimaaktivisten mögliche Strafverfahren mit geringen Geldbußen enden, ist er überzeugt.

Platzverweise, Betretungsverbote und Gefährderansprachen

Krajewski hat nach eigenen Angaben mit dem polizeilichen Instrument des Präventivgewahrsams kein Problem, wenn jemand ein, zwei oder drei Tage aus dem Verkehr gezogen wird. Er könne sich maximal eine Woche vorstellen, wenn die Sachlage völlig unklar ist.

"Präventivhaft ist eigentlich die Ultima Ratio. Es gibt andere Mittel, um auf die Ankündigungen der Protestierenden zu reagieren", sagt der Jura-Professor. Die Polizei könnte beispielsweise Platzverweise erteilen oder ein Betretungsverbot aussprechen und bei der Durchsetzung auch Zwang anwenden.


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Baden-Württembergs Innenminister Strobl kündigte an, "konsequent gegen illegale Straßenblockaden vorzugehen". Straftaten würden zur Anzeige gebracht. Außerdem setzt das Land auf Gefährderansprachen und Meldeauflagen. Jura-Professor Krajewski geht nicht davon aus, dass es bald eine bundeseinheitliche Regelung geben wird. Dazu müssten sich die 16 Länder auf einheitliche Voraussetzungen und Dauer einigen. Er rechnet allerdings damit, dass die Proteste in Zukunft noch störender sein werden. Wenn die Situation weiter eskaliere, würden sicher einzelne Bundesländer die Präventivhaft verschärfen.

Aktivist organisiert Aktionstrainings

"Wir lassen uns von jeglicher Art von Repressionen nicht einschüchtern", sagt Aktivist Raúl Semmler. Die Aussicht auf Gefängnis sei bedrückend für die Aktivisten. Er sei in Berlin und München für maximal dreieinhalb Tage eingesperrt worden. "In Bayern sind die Gefängnisse etwas besser ausgestattet als in Berlin", meint er. Dickere Matratzen, dickere Decken und teilweise mit eigener Toilette in der Zelle.

Nach den Erfahrungen hinter Gittern konzentriert sich Semmler nach eigenen Angaben auf die Organisation von Aktionstrainings. "Ich bin nicht so mutig, für 30 Tage ins Gefängnis zu gehen. Das traue ich mir nicht zu."

Was das Polizeigesetz in Baden-Württemberg erlaubt

Das Polizeigesetz in Baden-Württemberg unterscheidet drei Arten von Gewahrsam, erklärt das Polizeipräsidium Heilbronn. Beseitigungsgewahrsam wird angewendet, um eine unmittelbar bevorstehende Störung der öffentlichen Sicherheit zu verhindern oder eine bereits eingetretene Störung zu beseitigen. Vorausgesetzt, diese Vorkommnisse lassen sich nicht auf andere Weise klären. In Schutzgewahrsam können selbstmordgefährdete Menschen und solche in hilfloser Lage genommen werden. Identitätsgewahrsam droht Menschen, deren Identität sich nicht feststellen lässt.

Das Gesetz schreibt vor, dass die Polizei unverzüglich eine richterliche Entscheidung über den Gewahrsam einholen muss. Der Arrest ist aufzuheben, sobald der Zweck erfüllt ist.

 
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