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Corona-Demonstranten werden radikaler

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In Baden-Württemberg kam es am vergangenen Wochenende gleich in mehreren Städten zu Demonstrationen gegen die Corona-Politik. Die Sorgen werden größer, dass sich die Teilnehmer zunehmend radikalisieren.

von Michael Schwarz , Alexander Hettich und dpa
In zahlreichen deutschen Städten gab es am Wochenende angemeldete, aber auch nicht genehmigte Demonstrationen.
Foto: dpa
In zahlreichen deutschen Städten gab es am Wochenende angemeldete, aber auch nicht genehmigte Demonstrationen. Foto: dpa  Foto: Bodo Schackow

Insgesamt gab es nach Angaben des Stuttgarter Innenministeriums landesweit 22 Versammlungen mit einem Bezug zur Pandemie. Mit dem Anstieg der Infektionszahlen und den strengeren Regelungen habe die Zahl der Teilnehmer bei den Querdenker-Versammlungen zugenommen und es sei "insgesamt ein intensiveres Versammlungsgeschehen zu verzeichnen", sagt Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU).

Alleine in Reutlingen hatten nach Polizeiangaben am Samstag rund 1500 Menschen an einer Kundgebung unter dem Motto "Für Freiheit, Wahrheit und Selbstbestimmung" teilgenommen, bei der es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen war. Nachdem Teilnehmer der Aufforderung der Polizei zum Tragen einer Maske nicht nachkamen, löste das Amt für öffentliche Ordnung die Demonstration auf. Danach zogen Teilnehmer trotzdem mit Pyrotechnik und Fackeln weiter. Es kam zu mehreren Attacken auf Beamte. Inzwischen wird gegen Teilnehmer ermittelt wegen des tätlichen Angriffs auf die Polizei, sowie wegen Beleidigung und versuchter Körperverletzung. 150 Beamte waren im Einsatz.


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650 Verstöße gegen die Corona-Verordnung am Wochenende 

In Stuttgart gab es in den vergangenen Tagen gleich mehrere Protestzüge von Menschen, die die Corona-Maßnahmen der Politik ablehnen. Auch hier hielten sich Teilnehmer vereinzelt nicht an die Maskenpflicht. Am Freitagabend versammelten sich bereits rund 350 Menschen vor dem Staatsministerium, dem Amtssitz von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Zur größten Demonstration kam es mit rund 2500 Teilnehmern in Freiburg. Landesweit hat es laut Polizeiangaben am Wochenende rund 650 Verstöße gegen die Corona-Verordnung gegeben, darunter 300 Verstöße gegen die Maskenpflicht.

Eine erste lokale Reaktion auf die Demonstrationen gibt es in Reutlingen. Das Landratsamt hat nun für bestimmte Bereiche der Innenstadt bis zum 15. Januar ein Alkoholverbot erlassen. Auch das Tragen der Maske wird dort zur Pflicht. Beide Regelungen gelten aber nur an Werktagen von 16 bis 23 Uhr sowie an Wochenenden und Feiertagen zwischen zehn und 23 Uhr. Im Einzelfall könnte es Bußgelder in Höhe von bis zu 25.000 Euro geben, heißt es in Reutlingen.

Strobl: Protest wird immer lauter, immer heftiger, immer brutaler

Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Baden-Württemberg rechnet nach eigenen Angaben der Initiative "Querdenken 711" und ihren regionalen Ablegern in Baden-Württemberg aktuell eine niedrige dreistellige Zahl an Personen zu. Seit Beginn der Corona-Pandemie sei zu erkennen, dass zahlreiche extremistische Strömungen versuchten, die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. "Diese kleine, radikale Minderheit befindet sich in einer gefährlichen Radikalisierungsspirale: Der Protest wird immer lauter, immer heftiger, immer brutaler", sagt Strobl. Wer verfassungsfeindlich handele, Gewalt herbeirede oder anwenden wolle, würde "mit allen Mitteln des Rechtsstaats zur Rechenschaft gezogen", so der Minister. Laut dem LfV führten die staatlichen Maßnahmen im gewaltorientierten Rechtsextremismus vereinzelt zu stark beschleunigten Radikalisierungsverläufen.

Ist nach den jüngsten Vorfällen ein Demonstrationsverbot etwa vor Rathäusern sowie Häusern oder Wohnungen von Politikern sinnvoll? Gebe es Hinweise auf gewaltbereite Protestzüge, würden Versammlungsverbote durch die Ordnungsämter in Betracht kommen, erklärt ein Sprecher Strobls.

In die Debatte um die mögliche Radikalisierung der Demonstranten bringt sich auch Baden-Württembergs Antisemitismusbeauftragter Michael Blume ein. Viele der radikaler werdenden Gegner seien nicht mehr für den Dialog zu erreichen, sagt Blume gegenüber dem "SWR". Die Deutsche Polizeigewerkschaft schlägt ebenfalls Alarm. "Die Radikalisierung spürt die Polizei zunehmend bei den Demonstrationen", erklärt der Landesvorsitzende Ralf Kusterer. Es gebe immer mehr körperliche und verbale Attacken. "Die Polizei repräsentiert den Staat, daher richten sich viele Aggressionen gegen unsere Beamten", so Kusterer.

 


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Auch in der Politik wächst die Sorge vor einer Radikalisierung von Gegnern staatlicher Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung. In zahlreichen deutschen Städten gab es am Wochenende angemeldete, aber auch nicht genehmigte Demonstrationen. Dabei kam es zum Teil auch zu Ausschreitungen. Polizisten und auch Journalisten wurden tätlich angegriffen worden. Der Terrorismusexperte Peter Neumann schloss auch terroristische Gefahren ausgehend von diesen Protesten nicht aus. "Was wir vereinzelt bereits gesehen haben, sind komplexere Anschläge auf das RKI zum Beispiel oder auf Kliniken und auf Impfstellen." Deshalb könne er sich vorstellen, "dass wir in einigen Monaten tatsächlich möglicherweise von einer terroristischen Kampagne sprechen müssen", sagte Neumann.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas konstatierte ebenfalls eine "spürbare" Radikalisierung bei den Protesten. "Das ist durchaus eine Gefährdung unserer Demokratie», sagte die SPD-Politikerin a in der ZDF-Sendung "Berlin direkt". Sie forderte ein Verbot von Demonstrationen vor Privathäusern von Politikern sowie eine verschärfte Beobachtung von Telegram-Chatgruppen. Über den Messengerdienst vernetzen sich viele Kritiker von Corona-Maßnahmen.

 


In Heilbronn gab es zuletzt keine Probleme

Proteste von Kritikern der Corona-Maßnahmen hat es auch in Heilbronn immer wieder gegeben. Tätliche Auseinandersetzungen gab es dabei nicht. Zu Beginn trat vor allem die örtliche "Querdenker"-Initiative als Veranstalter in Erscheinung. Im April 2021 hatte die Stadt versucht, eine Querdenker-Veranstaltung mit Hinweis auf angebliche frühere Verstöße zu verbieten, scheiterte aber vor dem Verwaltungsgericht. Die Kundgebung fand statt. Kürzlich ist ein Mann zu einer Geldstrafe verurteilt worden, der bei einer Kundgebung Ende 2020 in Heilbronn den Hitlergruß gezeigt hatte.

Eine Demonstration Anfang Dezember in Heilbronn gegen die Impffplicht war von Pflegekräften aus der Region organisiert. Es kamen 900 Teilnehmer, viel mehr als erwartet. Die Polizei sprach von einem friedlichen Verlauf. "Zuletzt hat es hier in Heilbronn gut funktioniert", teilt auch das Ordnungsamt mit. Hinsichtlich der Kooperationsbereitschaft der Anmelder habe man insgesamt aber "unterschiedliche Erfahrungen" gemacht. 

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