Tödlicher Angriff an Schule in St. Leon-Rot: Experte erklärt Gewalt unter Jugendlichen
Eine Schülerin stirbt nach einer Gewalttat in St. Leon-Rot. Gewaltforscher Dirk Baier erklärt, wie sich die Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen verändert hat und was mögliche Gründe sein können.

Ist die Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen gestiegen? Wer in der aktuellen Zeit die Geschehnisse verfolgt, erfährt immer wieder von fassungslos machenden Taten junger Menschen. In Offenburg erschießt ein 15-Jähriger einen Mitschüler, der genauso alt war. In Aalen prügeln zwei Jugendliche auf einen 14-Jährigen ein, bis dieser notoperiert werden muss. Und in St. Leon-Rot wird eine Schülerin an einem Gymnasium tödlich verletzt, mutmaßlich von einem Schüler. Es ist ein Auszug der schlimmsten Gewalttaten der vergangenen Wochen – und es gibt weitere.
Die Entwicklung geht in eine gefährliche Richtung. Oder ist es nur ein Gefühl, das durch die Berichterstattung der Medien sowie der "News" in den Sozialen Medien entsteht? Im Interview mit der Heilbronner Stimme gibt Prof. Dr. Dirk Baier von der "Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften" ein Antwort auf viele Fragen zur Gewalt von Jugendlichen. Der Institutsleiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention erklärt, ob die Gewaltbereitschaft wirklich zugenommen hat, welche Rolle Medien und Gesellschaft spielen und ob es Lösungen gibt.
Nach Bluttat von Offenburg: Gewaltforscher Prof. Dirk Baier im Interview
Hat die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen wirklich zugenommen?
Prof. Dr. Dirk Baier: Wenn wir die Jahre 2021 und 2022 in der Polizeilichen Kriminalstatistik vergleichen, müssen wir sagen: In den letzten 30 Jahren haben wir noch nie einen solch starken Anstieg der Gewalt gesehen. Dieser zeigt sich für alle Gewalttaten, für Körperverletzungen ebenso wie für Raub oder Mord und Totschlag. Im Übrigen ist der Anstieg bei den jüngeren Jugendlichen (10- bis 13-Jährige) noch stärker als bei den älteren Jugendlichen (14- bis 17-Jährige). Zwei Dinge sind zusätzlich zu beachten: Erstens sind ansteigende Zahlen nicht erst seit 2022 zu verzeichnen, sondern im Prinzip bereits seit 2015. Den Anstieg auf irgendwelche Nachholeffekte nach Corona zurückzuführen, wäre also nicht richtig. Zweitens gilt weiterhin: Die überwältigende Mehrheit der Jugendlichen verhält sich gesetzeskonform, es ist nur ein kleiner, aber eben steigender Teil, der mit Gewalt in Erscheinung tritt.
Im Vergleich zu früher hat der Medienkonsum zugenommen und Nachrichten gehen dank Internet ungefiltert nach außen. Spielt das auch eine Rolle bei der Wahrnehmung in Bezug auf Gewalt bei Jugendlichen?
Prof. Dr. Baier: Hinsichtlich der Medienberichterstattung haben sich mindestens drei Veränderungen ergeben: Erstens wird viel mehr überregional berichtet. Was es früher in die Lokalnachrichten gebracht hat, wird jetzt bundesweit diskutiert. Zweitens wird zeitlich ausgedehnter über einzelne Ereignisse berichtet. Über schwere Gewalttaten wird teilweise 14 Tage berichtet und wenn es dann noch zu einer Gerichtsverhandlung oder Verurteilung kommt, wird wieder über dasselbe Delikt berichtet. Dies erzeugt den Eindruck, dass eigentlich ständig etwas Schlimmes passiert. Drittens ist zur öffentlichen die private Nachrichtenproduktion hinzugekommen. In den Sozialen Medien wird mittlerweile jeder zum Journalisten, der insbesondere gern die dramatischen Themen kommentiert oder liked. All das führt natürlich dazu, dass die Aufmerksamkeit für jugendliches Fehlverhalten gestiegen ist. Allerdings lassen sich die Anstiege in der Statistik damit nicht wegdiskutieren.
Das Problem besteht, aber woher kommt die zunehmende Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen, teilweise ja sogar schon bei „Kindern“ zwischen 10 und 13 Jahren?
Prof. Dr. Baier: Hierüber gibt es leider noch keine abschließenden Antworten. Typische Erklärungen, wie einer Verschlechterung der sozialen Lage, Erhöhung der Armut oder der Jugendarbeitslosigkeit usw., können nicht herangezogen werden, weil hier keine negativen Entwicklungen in den letzten Jahren zu beobachten sind. Wir haben es stattdessen eher mit einem kulturellen Wandel zu tun: Es sind wieder mehr junge Menschen bereit, Gewalt als Mittel der Selbstdurchsetzung zu akzeptieren, Konflikte mit Gewalt zu lösen, auch weil dies die eigene Männlichkeit unterstreicht. Für diese Entwicklung könnten wiederum mediale Vorbilder entscheidend sein. Zusätzlich ist festzustellen, dass Jugendliche sich wieder häufiger zu delinquenten Gruppen und Gangs zusammenschließen. Aus diesen Gruppen heraus werden dann Straftaten begangenen, einerseits wegen der gruppendynamischen Prozesse, andererseits wegen des Gruppendrucks.
Wenn wir über steigende Gewalt bei Jugendlichen sprechen, geht es dann um Gewalt jeglicher Art oder nur rein körperliche?
Prof. Dr. Baier: Die Polizeilichen Kriminalstatistiken erfassen physische Gewalt. Die Anstiege betreffen daher körperliche Angriffe. Es gibt aber auch Hinweise aus anderen Studien, dass Hassrede, Cybermobbing usw. im Anstieg begriffen sind. Insofern verändert sich das gesamte soziale Verhalten von Jugendlichen zum Negativen.
Eine Entwicklung, die alles andere als gut ist. Welchen Stellenwert hat die Gesellschaft bei der steigenden Gewalt von Jugendlichen?
Prof. Dr. Baier: Es ist immer recht einfach, die Gesellschaft für Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen, denn gemeint sind damit irgendwie alle, aber letztlich niemand konkret. Es ist sicherlich so, dass gesellschaftliche Entwicklungen einen Beitrag leisten: Erwachsene sind Vorbilder und es gibt genügend Vorbilder beispielsweise in der Politik, die zeigen, dass Anstand und Respekt verloren gehen. Jugendliche machen das dann nach. Ich würde aber immer sagen, dass für jugendlichen Fehlverhalten vor allem die Eltern eine Verantwortung tragen. Insofern brauchen jene Eltern Unterstützung, die es nicht schaffen, ihren Kindern zu vermitteln, auf Gewalt zu verzichten.
Gibt es denn überhaupt eine Chance, Gewalttaten zu verhindern?
Prof. Dr. Baier: Gewalt und Kriminalität gehören zu jeder Gesellschaft. Mir ist keine völlig gewaltfreie Gesellschaft bekannt. Dennoch sollte dies nicht zu Untätigkeit animieren. Beispielsweise hatten wir zwischen 2007 und 2015 einen bemerkenswert starken Rückgang der Jugendgewalt; manche Delikte haben sich halbiert. Ich bin überzeugt davon, dass die Prävention in den Kommunen, den Schulen usw. hierfür eine Rolle gespielt hat. Gewalt lässt sich durch gemeinsame Aktivitäten reduzieren, ganz verschwinden wird sie nicht.
Prävention in den Kommunen könnte also helfen. Welche Lösungen sind Ihrer Meinung nach noch zielführend?
Prof. Dr. Baier: Menschen, insbesondere Kinder und Jugendliche, brauchen verlässliche Beziehungspersonen, die sie emotional unterstützen und ihnen ihre Grenzen aufzeigen. Zudem brauchen junge Menschen positive Verhaltensvorbilder in den verschiedenen Bereichen, in denen sie sich bewegen – in den Schulen, den Vereinen... Und sie brauchen eine positive Zukunftsperspektive, den Eindruck, dass es sich lohnt, gut zu sein und Gutes zu tun. Wir müssen also daran arbeiten, dass wir diese Beziehungen und diese Zukunftsperspektiven anbieten.


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