Olympisches Sitzkissen mit 57 Jahren Geschichte
Ein Souvenir von Turn-Trainer Karl-Horst Hellwig aus Tokio erinnert an eine erfolgreiche Vergangenheit der SV Neckarsulm. Hellwig trainierte auch seinen Sohn, der erinnert sich an die Zeit.

Schon vor 57 Jahren fanden die Olympischen Spiele in Tokio statt. Karl-Horst Hellwig turnte in den 1960er Jahren für Goslar, Hannover und Göttingen. Der aus Breslau geflohene Athlet war zur Zeit der Spiele 36 Jahre alt. In Tokio war er selbst nicht, aber über Beziehungen konnte Karl-Horst Hellwig ein Sitzkissen aus der japanischen Hauptstadt ergattern. Sein Sohn Jürgen hat dieses Sitzkissen 57 Jahre später herausgekramt und fotografiert.
"Die Kontakte meines Vaters sind mir auch nicht ganz genau klar", sagt Jürgen Hellwig. Wie das Souvenir den Weg zu ihm nach Leingarten fand, bleibt ein Rätsel. "Vermutlich wurden die Kissen kostenlos verteilt", meint Hellwig. Auf der Rückseite wird ein Transportunternehmen beworben, das Sportler von Tokio per Schiff zu den Wettkampfstätten im nördlich gelegenen Muroran brachte.
Ein Erfolgsteam um Vorzeigeathlet Eberhard Gienger

1964 war Jürgen Hellwig 14 Jahre alt, von 1961 bis 1971 war er Teil des mehrfach preisgekrönten Turnerteams bei der Sportvereinigung Neckarsulm, das ab 1978 zur KTV Heilbronn/Neckarsulm wurde. Ein Turner wurde im Dezember 1969 bei der Heilbronner Stimme als "junges Talent" bezeichnet und sticht bis heute aus der Riege heraus: Eberhard Gienger. Die großen Erfolge feierte Gienger aber erst ab 1971, da hatte Hellwig bereits aufgehört. "Essen, schlafen, trainieren, arbeiten. Da blieb nicht viel Zeit für andere Hobbys", sagt er heute.
Zwei Jahre nach den Spielen in Tokio wird Karl-Horst Hellwig Trainer bei der SV Neckarsulm. 1967, also ein Jahr später, coacht er Gerhard Kern zum deutschen Meister im Pferdsprung, die Mannschaft wird 1968 und 1971 deutscher Vizemeister. Jürgen Hellwig feiert in dieser Zeit auch Erfolge, nicht nur mit der Mannschaft: Beim deutschen Turnfest 1968 wird er 30., 1969 wird er württembergischer Meister. Im Dezember 1969 schreibt Sportredakteur Lothar Strobl im Zusammenhang mit den Qualifikationswettkämpfen für die erste Bundesliga in der HSt, dass "Jürgen Hellwig schon eine glatte Neun turnen kann, wenn es bei ihm ,läuft"".
Jürgen Hellwig hatte 1971 genug vom Turnen - Sein Vater blieb

Hellwig verlässt das Team 1971, die Chemie mit seinem Vater, der auch sein Trainer ist, stimmt nicht mehr: "Es hat nicht funktioniert." Mit 21 ist er zur damaligen Zeit volljährig, zieht von zu Hause aus und "holt eine gewisse Freizeit nach". An die Kfz-Mechanikerlehre hängt er noch eine Gesellen- und schließlich eine Meisterprüfung an. Es verschlägt ihn nach Stuttgart, wo er eine Autohauswerkstatt leitet, bevor er 1987 zurück zu Audi nach Neckarsulm kommt. Hellwig verpasst den Meistertitel der Sportvereinigung im Mannschaftsturnen 1972: "Das hat mich schon gefuchst. Aber es ging jeden Tag darum, zu trainieren. Nicht solange, bis man nicht mehr will, sondern bis man nicht mehr kann", sagt er rückblickend. Er hatte genug.
Sein Vater blieb den Neckarsulmern treu, wurde Landesturnwart und erwarb die A-Lizenz. Damit war er auch an Lehrgängen der Nationalelf an der Deutschen Turnschule in Frankfurt beteiligt. Ein besonderer Coup gelang ihm 1969: er konnte Vladimir Prorok nach Neckarsulm holen. Prorok - selbst Europameister am Boden Mitte der 1950er Jahre - hatte als tschechoslowakischer Nationaltrainer Eva Bosakova und Vera Caslavska 1960 bis 1968 zu mehreren Olympiasiegen geführt. Leider währte das Intermezzo Proroks nicht lange: "Die Sowjetunion wollte verhindern, dass er ausreist", sagt Hellwig. 1970 musste der Trainer zurück gen Osten. 1981 bis 1987 schaffte er es aber als deutscher Turn-Nationaltrainer zurück nach Deutschland. 1973 stellte Karl-Horst Hellwig sein Amt des Oberturnwartes zur Verfügung und hört auf. Dafür, dass er erst mit 20 Jahren angefangen habe zu turnen, sei er "belächelt" worden, sagt sein Sohn. Nicht nur als Athlet, sondern auch beruflich kann er aber einiges vorzeigen: vom Lageristen bei Audi arbeitet er sich zum Abteilungsleiter hoch. 2005 stirbt er im Alter von 77 Jahren.
Verletzungspech
Als 1969 die Turn-Bundesliga gegründet wird, haben die Neckarsulmer gesundheitliche Probleme, die Vereinschronik spricht von "Turnerpech ohne Ende" - Jürgen Bischof und Gerhard Kern reißt die Achillessehne. Bischof ist durch einen Narkosefehler wochenlang bewusstlos im Krankenhaus, Mannschaftsarzt Dr. Ossen flickt deshalb Kern in Teilnarkose. Das Team kann sich aber in der Bundesliga halten. Sehr viel besser läuft es bei den württembergischen Meisterschaften: neben Jürgen Hellwig gewinnt Alfred Grünefeldt neben dem Zwölfkampf weitere sechs Titel.


Stimme.de
Kommentare