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Die Bilanz der Fußball-EM: Zwischen betörend und verstörend

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Die erste paneuropäische Europameisterschaft musste fast zwangsläufig zum Turnier der Widersprüche werden. Das Turnier 2024 in Deutschland ist eine große Chance.

Von Frank Hellmann
Die erste paneuropäische Europameisterschaft musste fast zwangsläufig zum Turnier der Widersprüche werden. Fotos: Robert Michael
Die erste paneuropäische Europameisterschaft musste fast zwangsläufig zum Turnier der Widersprüche werden. Fotos: Robert Michael  Foto: Robert Michael

Was in der Rückschau auf diese Fußball-Europameisterschaft bleibt? Wohl am ehesten Begebenheiten wie eine in Rom unweit der Ponte della Musica, der modernen Fußgängerbrücke über den Tiber. Die letzten Menschen strömten nach dem Viertelfinale zwischen England und der Ukraine (4:0) aus dem Stadio Olimpico. Auf der anderen Flussseite standen rote Busse, aus denen Speisen und Getränke verkauft wurden. Ein älteres Ehepaar in englischen Trikots bestellte ein letztes Bier.

Dabei erzählte der seit Jahrzehnten in Italien lebende Brite mit geröteten Augen, dass er ganz kurzfristig an Tickets gekommen sei, nachdem Fans von der Insel ja nicht reisen durften. Dass er bei einer EM-Partie Englands das "Football"s Coming Home" mit Landsleuten singen konnte - das war für ihn kaum in Worte zu kleiden. Tränen kullerten über seine Wange, seine Frau nahm ihn in den Arm. Solche betörenden Momente hat es im Zuge der in elf Spielorte verteilten 16. Auflage einer Europameisterschaft einige gegeben.


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Doch wo sich Rom an jenem Abend mit 11 880 Zuschauern begnügt hatte, pressten sich vier Tage darauf in London zum Halbfinale zwischen England und Dänemark 64 950 Besucher ins Wembleystadion. Wo es im italienischen Oval vielleicht auf den Rängen zu luftig gewesen ist, war es in der englischen Kathedrale definitiv zu gedrängt. Maske, Abstand? Nicht doch. Big Party nicht nur am Big Ben. Und das in einem Land, in dem die hochansteckende Delta-Variante des Corona-Virus ihr Unwesen treibt.

Nach dem Endspiel weiß man mehr 

Am Endspieltag genügte der Blick auf die Sieben-Tages-Inzidenz, um die Unterschiede zu begreifen: Italien 12,2. England 311. Noch Fragen? Erst weit nach dem Endspiel wird man im Detail wissen, ob das besondere Fußball-Feeling im Vereinigten Königreich mit Häufungen schwerer Corona-Erkrankungen und Toten erkauft worden ist. Hier ist nur teilweise die Europäische Fußball-Union (Uefa), sondern die britische Regierung mit Premier Boris Johnson an den Pranger zu stellen, die sehenden Auges das verstörende Risiko billigte.

Dass der Grat bei diesem paneuropäischen EM-Projekt schmal sein würde, war von vornherein klar. Letztlich aber gehört ein Verantwortungsgefühl fürs Publikum für jeden Veranstalter dazu - und hier hat bisweilen der gesunde Menschenverstand ausgesetzt. Vielleicht auch, weil vielerorts die Macht des Fußballs die Sinne betäubte: Trotz allem Unwesen, das vor allem die großen Verbände betreiben, taugt diese Sportart wie kaum ein anderes Ereignis dazu, die Menschen für eine Sache zu begeistern. Trotz oder gerade wegen Corona?

 


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Ablenkung schien willkommen 

Die Ablenkung schien in vielen Ländern ausgesprochen willkommen, nachdem über einen langen Winter der Alltag von einer Pandemie geprägt war, in der Politikern aller Couleur irgendwann der Kompass verloren ging. Ein durch positive Emotionen übermitteltes Seelenheil fließt erstmal in keine Statistik ein, aber einen erhellenden Effekt auf die Psyche kann niemand negieren, der es erlebt hat. Nur weil der deutsche Freudentaumel ausgeblieben ist, muss das nicht gleich verdammt werden.

Die notgedrungen um ein Jahr verschobene EM 2020 war ein waghalsiger Großversuch. Natürlich gelenkt von geschäftlichen Interessen, denn Spiele vor Publikum verkaufen sich halt besser. Und die Erlöse aus dem Ticketverkauf sind bei Gesamteinnahmen von mehr als zwei Milliarden Euro - das Gros durch den Verkauf der Medienrechte - nicht völlig zu verachten. Die Uefa verpasste es, eine verbindliche Vorgabe an maximaler Stadionauslastung festzusetzen. Auch wenn beispielsweise in Budapest nur Geimpfte, Genesene und Getestete streng kontrolliert in die Puskas-Arena strömten: Dort Spiele vor ausverkauftem Haus zu veranstalten, vermittelte falsche, verstörende Signale.

Immerhin: Die Idee der paneuropäischen EM ist Geschichte

Uefa-Chef Aleksander Ceferin hat immerhin deutlich gemacht, dass das Modell einer paneuropäischen EM gescheitert ist. Es war die fixe Idee seines Vorgängers Michel Platini, der unter ganz anderen Umständen dem Turnier diese Idee vor neun Jahren überstülpte. Ceferin ließ nicht unerwähnt, dass die grenzwertigen Reisebewegungen - allein die Schweiz legte mehr als 15 000 Flugkilometer zurück - teils einen Wettbewerbsnachteil bedeuteten. Zum einen wurden damit auch alle Nachhaltigkeitsbemühungen torpediert.

Zum anderen hat sich gezeigt, dass echte Turnieratmosphäre eben nur entsteht, wenn die EM auf ein Land oder eine Region beschränkt ist. Insofern kann die Vergabe der EM 2024 nach Deutschland die Chance sein, aus vielen Fehlern zu lernen und unvergessliche Erinnerungen zu erzeugen, ohne dafür unverantwortliche Gefahren einzugehen.

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