VW setzt alles auf eine Karte
Das Elektroauto ID.3 ist entscheidend für die Zukunft von VW und Konzernchef Herbert Diess. Er soll das Unternehmen fit machen für aktuelle und künftige Herausforderungen - und Gradmesser für die Branche schaffen, wie einst beim Käfer und beim Golf.

Das Smartphone muss draußen bleiben, bevor sich die Tür zu einem der geheimsten Orte des größten Autobauers der Welt öffnet. Ein großer, fensterloser Raum mit riesiger Video-Leinwand und Drehtellern, die in den Boden eingelassen sind. Auf dem Werksgelände von Volkswagen in Wolfsburg befindet sich dieser Ort, den sie intern Walhalla nennen. In der nordischen Mythologie ist damit der Ruheort gefallener Kämpfer gemeint.
Walhalla von Volkswagen befindet sich im Herzen des Designzentrums. Hier wird Vorstand, Aufsichtsrat und anderen Entscheidern in regelmäßigen Abständen präsentiert, was in einigen Jahren auf die Straße kommen soll. Hier wird Autogeschichte geschrieben. Oder verhindert. Hier werden Karrieren gefördert. Oder beendet.
Blick zurück ins Jahr 2015
Um die Gegenwart zu verstehen, muss man ab und zu in die Vergangenheit blicken. Damals, im Sommer 2015, kommen die Granden des VW-Konzerns mal wieder zusammen in Walhalla. Der damalige Konzernchef Martin Winterkorn hat Wochen zuvor den Machtkampf mit dem mittlerweile verstorbenen Patriarchen Ferdinand Piëch ("Ich bin auf Distanz zu Winterkorn") für sich entschieden. Die Enthüllung des Dieselskandals ist noch gut acht Wochen weit weg.
Winterkorn hat gute Laune, er ist als Sieger aus der Schlacht mit dem scheinbar unantastbaren Piëch vom Platz gegangen. Auf den Drehtellern wird die Zukunft von Volkswagen hell im Scheinwerferlicht erleuchtet. "Was ist mit den Elektroautos?", fragt einer, der neu ist in der illustren Runde. Herbert Diess, seit Juli 2015 Markenchef von VW und zuvor Entwicklungsvorstand bei BMW. Zwei Jahre zuvor hat er dort das E-Auto i3 zur Marktreife begleitet.
Die strengen Emissionsgrenzen sind seit 2013 bekannt
Zu teuer, zu aufwendig, zur falschen Zeit - Winterkorn ist seinerzeit kein Freund der Elektromobilität. Ein E-Auto steht damals nicht in Walhalla. Altgedienten Car Guys wie Winterkorn sind die E-Motoren geradezu suspekt. Ihr ganzes Leben haben Entwickler, Ingenieure und Manager wie er mit der Arbeit an Verbrennungsmotoren verbracht. Herbert Diess ist es, der damals die Zahl 95 in den Raum wirft.
Eben jene Zahl, die heute für Kopfschmerzen in den Chefetagen der Autohersteller sorgt. Seit diesem Jahr darf der Flottenausstoß von CO2 in der Europäischen Union nur 95 Gramm pro Kilometer betragen.
Berechnungen der Unternehmensberatung PA Consulting zufolge wird Volkswagen im nächsten Jahr das Ziel um etwa 12,7 Gramm CO2 pro Kilometer überschreiten und kommt mit zuletzt EU-weit fast vier Millionen verkauften Autos über alle Konzernmarken hinweg auf die höchsten Strafzahlungen aller Hersteller: 4,5 Milliarden Euro könnten fällig werden, obwohl die vorausgesagte Überschreitung lediglich 13,1 Prozent beträgt.
Neue Zeitrechnung nach dem Dieselskandal
Im Hier und Jetzt, so scheint es mitunter, kommt die Regelung mit den 95 Gramm überraschend. Dabei datiert sie aus dem Jahr 2013. "Diess hat damals bei seinem Amtsantritt 2015 bereits eindringlich gewarnt, dass der Wert ohne eine große Anzahl von E-Autos nicht zu schaffen sein wird", erzählt ein ehemaliger Topmanager. Zugehört wird Diess, gehandelt wird aber nicht. Das ändert sich kurze Zeit später schlagartig.
Im September 2015 beginnt in dem Zwölf-Marken-Reich mit mehr als 640.000 Mitarbeitern weltweit eine neue Zeitrechnung. US-Behörden decken auf, dass VW die Abgaswerte seiner Diesel-Fahrzeuge manipuliert. Winterkorn muss gehen, der damalige Porsche-Chef Matthias Müller übernimmt die Führung des Konzerns. Und die Eigentümerfamilien Porsche und Piëch? Sie hören nun Diess aufmerksamer zu. Der heute 61-Jährige soll den Konzern fit machen für die Zukunft: Weg von Verbrennern, hin zu Stromern.
Eigener Baukasten für die Elektroautos
Diess arbeitet akribisch, am 13. April 2018 löst er Matthias Müller als Konzernchef ab. Da ist die Marschroute längst verabschiedet. Im Konzern wird alles auf eine Karte gesetzt - und die heißt Elektro. Dafür wird ein Baukasten erdacht, der modulare Elektrifizierungs-Baukasten (MEB), der variabel ist und auf dem von der Limousine über das SUV bis zum Van verschiedenste Autos entstehen können. Und in dessen Genuss alle Konzernmarken kommen. Volkswagen macht nun den Start mit dem ID.3. Die Drei steht dabei für die dritte große Revolution nach Käfer und Golf.
Das erste E-Auto soll der Gradmesser für die gesamte Branche sein. So wie es Käfer und Golf waren. Ein Gradmesser aber vor allem dafür, ob VW den Sprung ins neue Zeitalter schafft. "Schauen Sie sich die Emissions-Grenzwerte an: Dadurch brauchen wir bis zum Jahr 2030 einen Elektroanteil von rund 50 Prozent", sagt Diess. Ausgerechnet beim mit Abstand wichtigsten Auto gibt es massive Softwareprobleme.
Der Marktstart im Sommer soll aber wie geplant erfolgen, beteuern sie wieder und wieder in Wolfsburg. Eines steht jedoch fest: Der Golf der Neuzeit wird erst einmal mit einer abgespeckten Software ausgeliefert. "Wir haben bis jetzt noch nicht einmal eine Preisliste ", stöhnt ein Vertriebsmann.
Pannenserie beim Golf löst neuen Machtkampf aus
Herbert Diess muss in diesen Tagen an vielen Fronten kämpfen. Ein Problem scheint nun gelöst: Der Auslieferungsstopp für die achte Generation des Bestsellers Golf aufgrund des fehlerhaften Notrufsystems ist seit vergangenem Freitag aufgehoben. Die Probleme bei dem Kompaktmodell hatten Betriebsrats-Boss Bernd Osterloh auf den Plan gerufen und einen neuen Machtkampf ausgelöst. Verwunderlich ist das nicht.
Wolfsburg ist Osterlohs Basis: Hier wird der Golf produziert, hier arbeiten 70.000 Menschen. Abgesehen davon hat die Chemie zwischen Diess und Osterloh nie richtig gestimmt. Diess hat die Eigentümerfamilien auf seiner Seite, Osterloh die Beschäftigten. Diess hat das Sagen, Osterloh die Macht. Eine schwierige Konstellation. Nun knallt es seit Wochen mächtig zwischen Arbeitnehmervertretern und Vorstand.
Wer wird zur Verantwortung gezogen?
Der vermeintlich rassistische Golf-Werbespot könnte Marketingchef Jochen Sengpiehl den Job kosten. Längst wird darüber spekuliert. Wolfsburg dementiert. Die Führung der Kernmarke Volkswagen gibt Diess an den bisherigen Co-Chef Ralf Brandstätter ab. Diess solle so „mehr Freiraum für seine Aufgaben als Konzernchef“ bekommen, heißt es aus dem Aufsichtsrat. „Das läuft wie immer: Ein paar Manager müssen jetzt auf einen anderen Posten, zu einer anderen Konzernmarke oder ganz gehen“, sagt ein ehemaliger Topmanager. „Diese Runde geht noch einmal an Diess. Das wird ihm etwas Zeit verschaffen, aber er muss jetzt liefern.“
Der ID.3, da sind sie sich in Konzernkreisen einig, muss ein Erfolg werden, sonst wird es nicht nur für Diess eng, sondern auch für den Konzern: Entweder Milliardenstrafen wegen der Überschreitung des Flottenausstoßes oder eine zügige Elektrifizierung der Modellpalette. Vor der Sommerpause kommen die Entscheider wieder zusammen in Walhalla. Dann werden sie vor allem E-Autos in Augenschein nehmen. Hier an jenem Ort, an dem Autogeschichte geschrieben wird. Oder verhindert. Dort, wo Karrieren gefördert werden. Oder beendet.