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Gewerkschaften verzeichnen mehr Mitglieder – "Neue Intensität von Arbeitskämpfen"

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Jahrelang gingen die Mitgliederzahlen von Gewerkschaften zurück, doch 2023 war der Zuwachs so groß wie nie. Was zu dieser Entwicklung beigetragen hat und welche Herausforderungen auf Verdi, IG Metall & Co. warten.

Verdi-Warnstreik am Frankfurter-Flughafen: Die Gewerkschaft verzeichnet einen deutlichen Mitgliederzuwachs.
Verdi-Warnstreik am Frankfurter-Flughafen: Die Gewerkschaft verzeichnet einen deutlichen Mitgliederzuwachs.  Foto: Arne Dedert (dpa)

So viele waren es noch nie: Die Gewerkschaft Verdi verzeichnet für das Jahr 2023 einen Zuwachs von 193.000 Mitgliedern, was damit nach eigenen Angaben das erfolgreichste Jahr seit der Gründung 2001 ist.

Bei den unter 28-Jährigen sind es rund 50.000 neue Mitglieder. Jahrelang hatten Gewerkschaften mit Mitgliederschwund zu kämpfen. Der Vorwurf, Gewerkschaften seien ein Auslaufmodell, stand oft im Raum: Diese Entwicklung scheint gestoppt. Ist das die Trendwende?


Mitgliederzuwachs bei Gewerkschaften: Besonders Inflation gilt als Ursache

Karl Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena und erklärt: "Ja, das ist eine Trendwende. Wir beobachten das nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern. Es ist eine neue Intensität von Arbeitskämpfen." Als Beispiel nennt er die Lehrerproteste in Portugal, die Rentenproteste in Frankreich und die Proteste in der Autoindustrie in den USA. "Hier hat sich Präsident Joe Biden sogar vor den Werkstoren mit den Gewerkschaften solidarisiert."

Als Ursachen für diese Entwicklung sieht Karl Dörre insbesondere die Inflation, die dazu führe, dass der finanzielle Spielraum für einen großen Teil der Bevölkerung kontinuierlich kleiner werde: "Vom gesamtgesellschaftlich wachsenden Wohlstand profitiert in Deutschland nur die obere Hälfte", so der Soziologe. Große Aufmerksamkeit bei Arbeitsniederlegungen erfahren immer wieder die GDL-Streiks

Junge Menschen am Arbeitsmarkt wissen um ihren Wert

Die Gewerkschaft IG Metall hat in Baden-Württemberg 2023 3470 Auszubildende als Neumitglieder gewonnen, ein Zuwachs von 2,6 Prozent. In der Region Heilbronn-Neckar-Franken hat Verdi 2023 ein Rekordergebnis an neuen Mitgliedern erlangt: Knapp 3000 Personen sind der Gewerkschaft hier beigetreten, darunter 940 Mitglieder unter 30 Jahren. Dieser Zuspruch von jungen Arbeitnehmern verändert aber auch die Anspruchshaltung an die Gewerkschaften.

Viele stellten zuletzt wieder fest, dass man individuell an seinen Arbeitsbedingungen nichts ändern könne, gemeinsam aber schon: "Die Arbeitsmarktsituation hat sich hin zu einem Arbeitnehmermarkt verändert und das merken gerade die jungen Leute. Sie werden selbstbewusster, das beobachten wir schon länger. Die jungen Menschen haben eine andere Anspruchshaltung, sie wollen das, was ihnen zusteht, und zwar sofort", erklärt Karl Dörre.

Gewerkschaftsmitglieder werden in Tarifverhandlungen anders einbezogen als früher

Durch diese Veränderung seien Gewerkschaften zu schnellstmöglichem Erfolg verdammt und müssten außerdem lernen, Tarifforderungen mit den Mitgliedern zu entwickeln. Das sei früher eher die Rolle von Funktionären gewesen. "Die Einbeziehung von Mitgliedern bei Tarifauseinandersetzungen und Aktionsformen ist in dieser Art neu."

Im April 2023 wurde für den öffentlichen Dienst die höchste Tarifsteigerung der Nachkriegszeit erzielt. Die Gewerkschaften zeigten sich sehr zufrieden, Vertreter der Kommunen bezeichneten die Einigung als hohe finanzielle Belastung ihrer Haushalte. "Unterm Strich ist es für die Städte ein sehr teurer, aber gerade noch machbarer Kompromiss", sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, der Nachrichtenagentur dpa im April vergangenen Jahres.

Mehr Kompromisslosigkeit muss nicht negativ sein

Der Eindruck, dass Gewerkschaften in ihren Forderungen kompromissloser geworden sind, ist nach Einschätzung von Klaus Dörre korrekt. "Das gilt natürlich auch für die Arbeitgeber. Die Gewerkschaften haben aber gelernt, dass sie nur erfolgreich sind, wenn sie öffentlich sichtbar sind."

Gleichzeitig geht die Tarifbindung der Betriebe kontinuierlich zurück. Doch laut Klaus Dörre profitierten auch Arbeitgeber davon. "Das war eigentlich Konsens nach 1949 in der alten Bundesrepublik. Wirtschaftlicher Friede galt als Produktivkraft. Diese Grundhaltung ist verschwunden."

Unternehmen würden darüber hinaus davon profitieren, dass Konflikte zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaften gelöst werden. Ansonsten könne die volle Konflikthaftigkeit auf den Betrieb zurückschlagen. Das bedeutet konkret: Die Konfrontation findet auf Betriebsebene statt, die Beziehungen am Arbeitsplatz verschlechtern sich, die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten sinkt, Krankenstände nehmen zu, und das wirkt sich wiederum wirtschaftlich negativ aus.

Doch die zunehmende Kompromisslosigkeit muss nicht zwangsläufig ein negatives Zeichen für das zukünftige Klima am Arbeitsmarkt sein. Gegensätzliche Interessen öffentlich auszutragen gehöre zur Demokratie dazu. Klaus Dörre fügt an: "Das muss auch seitens der wirtschaftlichen Eliten besser gelernt werden. Denn Streit kann auch verbinden."

 


Dafür gibt es Gewerkschaften

Gewerkschaften sind Organisationen zur Vertretung der Interessen von Arbeitnehmern. In Deutschland ist die größte Dachorganisation für Einzelgewerkschaften der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Zu ihm gehören acht Mitgliedsgewerkschaften, darunter die IG Metall und die Vereinte Dienstleistungsgesellschaft (Verdi). Die Finanzierung läuft über Mitgliedsbeiträge, die unterschiedlich hoch sein können - oft handelt es sich um ein Prozent des Bruttomonatslohns. Zu den Kernaufgaben von Gewerkschaften zählt die Durchsetzung fairer Löhne und besserer Arbeitsbedingungen, gegebenenfalls die Verkürzung der Arbeitszeit sowie arbeitsrechtliche Beratung für Mitglieder. 

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