Betrugstechnik war Audi-intern wohl lange bekannt
Im Dieselprozess macht der Audi-Chemiker Henning L. detaillierte Aussagen, wie es zu dem Skandal kommen konnte. "Stille Post" führte zu weichgespülten Aussagen auf dem Weg nach oben.

Die illegalen Manipulationen an Audi-Dieselfahrzeugen waren werksintern bereits 2008 in der Entwicklungsphase als Betrugsvorrichtung ("Defeat Device") erkannt worden. Trotzdem hatte niemand die Notbremse gezogen und die verbotene Technik zurückgenommen.
Das geht aus den Einlassungen des Angeklagten Henning L., damals für die Abgasnachbehandlung in der Neckarsulmer Dieselmotoren-Entwicklung zuständig, am Mittwoch im Münchner Audi-Prozess hervor.
2008 wurde das Kind schon beim Namen genannt
Der 53-Jährige zitierte in seinen Aussagen aus der Mail eines für Zulassungen zuständigen Kollegen vom 3. Juli 2008. Darin heißt es: Eine Minderdosierung von Harnstoff als Sparmaßnahme sei "ein eindeutiges Defeat Device und ist nicht zulässig". Die Umweltbehörde erwarte, dass "mit Erfüllung der Abgasergebnisse in den Testzyklen auch unter gleichen Bedingungen auf der Straße die Grenzwerte eingehalten werden". Diese Funktion sei folglich abzuschalten, forderte der Mann.
Passiert war das freilich nicht. Schließlich waren die Ingolstädter Autobauer gerade dabei, auf dem US-Markt mehr Fuß zu fassen, sie wollten keine Zeit verlieren. Doch die Behördenvorgaben stellten die Entwickler vor große Probleme bei der Abgasreinigung.
Lieber ein Soundsystem als ein Adbue-Tank
Das Haupthindernis war selbstgemacht: Der Tank für Adblue, einer zur Reduzierung des Stickoxidausstoßes benutzten Harnstofflösung, war zu klein ausgelegt, unter anderem, um Platz für ein großes Soundsystem zu erhalten.
L. zeigte in seinen Erläuterungen die Entstehungsgeschichte des Betrugs auf, geprägt von einem engen Zeitrahmen für die Entwickler, verbunden mit Druck und Vorgaben von oben. Das Geschehen geht bis auf die Zeit zwischen 2006 und 2008 zurück. Schon 2006 hatte es Ablagerungsprobleme gegeben. Später kam ein unerwarteter Mehrverbrauch bei Adblue hinzu, teils um das Doppelte.
Nur noch ein Bruchteil des Stickoxids aus dem Abgas geholt
2007 habe es dann die "Erfindung" zweier Betriebsarten bei der Abgasnachbehandlung gegeben, sagte L.. Im sogenannten Speichermodus wurde permanent Adblue zugeführt, die Stickoxidreduzierung erfolgte korrekt (größer 90 Prozent), eine Mengendeckelung war nicht möglich. Ideal für den Testzyklus auf der Rolle.
Im Onlinemodus konnte der Adblue-Verbrauch dagegen heruntergeregelt werden, die Effizienz bei der Stickstoffreduzierung lag nur bei 30 bis 70 Prozent. "Das war eine Bombe, die wir den Chefs untergeschoben haben", trug Henning L. vor. Und noch immer habe die Hoffnung gelebt, einer der Vorgesetzten würde intervenieren und sagen: "Ihr seid ja verrückt, stoppt den Scheiß!"
Der Prozess
Im ersten Prozess auf deutschem Boden um den Dieselskandal sind neben Henning L. sein früherer Chef Giovanni Pamio, der Ex-Porsche-Vorstand und ehemalige Chef der Audi-Motorenentwicklung, Wolfgang Hatz, sowie Ex-Audi-Chef Rupert Stadler angeklagt. Der Vorwurf lautet unter anderem auf Betrug. Der Prozess läuft den Planungen zufolge bis Ende 2022. Fortsetzung ist am nächsten Dienstag.
Aber das blieb aus, "es wurde komplett geschluckt". Die tatsächliche Einführung der Abschaltvorrichtung sei "schleichend erfolgt" und zeitlich nicht mehr nachvollziehbar. Konkret als Urheber beschuldigen wollte er auf Nachfrage des Gerichts niemanden.
Henning L. hatte mit seinen umfangreichen Aussagen im Ermittlungsstadium die Anklageschrift in ihrer jetzigen Form erst ermöglicht. Er betonte am Mittwoch mehrfach, fest zu seiner Verantwortung zu stehen. Mit seiner rund 150-seitigen Präsentation rund um den Dieselskandal mutiert der Gerichtssaal in der JVA Stadelheim zeitweise zum Technikkino.
Wenn angeblich niemand in höheren Audi-Etagen erkannt haben will, dass hier Verbotenes passierte, erscheint das nach den Aussagen des 53-Jährigen unglaubwürdig. Allerdings, so erklärte L., seien Probleme in Mitteilungen nach oben meist "weichgespült worden".
Ein Beispiel: Ohne "Bescheißen" gehe es nicht, hatte es in einer Mail auf unteren Etagen geheißen, in der nächsthöheren Ebene wurde daraus eine "Problematik mit der Gesetzeskonformität". Beim Vorstand kam letztlich an, der Adblue-Verbrauch sei zu hoch. Flüsterpost bei Audi anno dazumal.
Unter Martin Winterkorn ging die Angst um
Henning L. sprach vor Gericht von einer "Angstkultur" im Unternehmen, auch wenn es unter Ex-Audi-Chef Rupert Stadler längst nicht mehr so schlimm wie unter Martin Winterkorn gewesen sei. Kaum einer habe sich getraut, Probleme offen anzusprechen, um nicht vom Vorgesetzten zusammengefaltet zu werden. Die Chefs wiederum hätten "nach oben rumgeeiert."
Über den Autor
Horst Richter ist Redakteur bei beim "Donaukurier" in Ingolstadt. Dort ist sein Text gestern veröffentlicht worden. Da die Plätze beim Prozess in München angesichts der Corona-Bedingungen stark limitiert sind, tauschen sich die Heilbronner Stimme und der "Donaukurier" bei der Berichterstattung aus.