Rekord-Zulauf an den Tafeln
So viele Menschen wie nie zuvor suchen Hilfe bei den deutschen Tafeln. Die gemeinnützige, ehrenamtliche Organisation fordert entschiedene staatliche Maßnahmen gegen die wachsende Armut.

Die Tafeln Deutschland beklagen eine dramatische Entwicklung beim Thema Armut. Die Zahl der Kundinnen und Kunden an den Essensausgaben hat sich im vergangenen halben Jahr um mehr als die Hälfte erhöht. Eine direkte Konsequenz nicht nur der Pandemie, sondern vor allem des Krieges Russlands gegen die Ukraine, der steile Inflationsanstieg wirkt als Armutsbeschleuniger. Nach Angaben der Tafeln suchen heute deutlich über zwei Millionen armutsbetroffene Menschen Unterstützung bei der Ehrenamtsorganisation – so viele wie nie zuvor. Der Ansturm hat Folgen: 32 Prozent der Tafeln musste bereits einen Aufnahmestopp durchführen, teilten die Tafeln am Donnerstag mit. Die Zahlen basieren auf einer Umfrage, die die Tafel Deutschland im Juni und Juli 2022 unter ihren 962 Mitglieds-Tafeln durchgeführt hat. 603 Tafeln haben sich an der Umfrage beteiligt.
Aktuell verteilen beinahe alle Tafeln gespendete Lebensmittel an mehr Personen: 60,71 Prozent der Tafeln verzeichnen einen Zuwachs von bis zu 50 Prozent bei ihrer Kundschaft; 22,6 Prozent der Tafeln unterstützen bis zu doppelt so viele Menschen wie noch vor einem halben Jahr. Bei 7,59 Prozent hat sich die Zahl der Kundinnen und Kunden verdoppelt und bei 8,94 Prozent sogar mehr als verdoppelt. Zu den neuen Kundinnen und Kunden zählen vor allem Geflüchtete aus der Ukraine, aber auch viele Erwerbslose mit Bezug von Arbeitslosengeld I oder II, Erwerbstätige mit geringem Einkommen sowie Rentnerinnen und Rentner.
„Armut macht keine Sommerpause”
Jochen Brühl, Vorsitzender vom Tafel Deutschland e.V., erklärte, die Tafeln seien
„am Limit”. Diese berichteten, „dass viele Menschen zu ihnen kommen, die bisher gerade so über die Runden gekommen sind und zum ersten Mal Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Sie erzählen aber auch von ehemaligen Kundinnen und Kunden, deren Situation sich wieder verschlechtert hat und die nun erneut Unterstützung brauchen“. „Armut macht keine Sommerpause, Armut lässt sich nicht vertrösten. Wir sehen deutlich, dass es den Menschen jetzt am Nötigsten fehlt und rufen weiterhin zu Spenden für die Tafeln auf.“
Vielerorts wurden Ausgabemengen reduziert
Viele Tafeln mussten zum ersten Mal einen Aufnahmestopp erlassen. Ihnen fehlen Lebensmittel und in zahlreichen Fällen auch Ehrenamtliche, um allen zu helfen, die nach Unterstützung fragen. Um die Ausgabe nicht vollends einstellen zu müssen, verteilen rund 62 Prozent der Tafeln momentan kleinere Mengen an jeden bedürftigen Haushalt, um möglichst vielen Menschen Lebensmittel mitgeben zu können. 17 Prozent haben die Abholhäufigkeit reduziert, sodass Kundinnen und Kunden beispielsweise nur noch alle zwei Wochen statt jede Woche zur Lebensmittelausgabe kommen können.
Der psychische Druck auf die Helfer nimmt zu
Am Limit sind die Ehrenamtlichen selbst. Sirkka Jendis, Geschäftsführerin Tafel Deutschland, sagte dazu: „Die Situation belastet unsere Helferinnen und Helfer stark, denn mehr Kundinnen und Kunden bedeuten längere Ausgabezeiten und einen höheren Aufwand. Viele sind erschöpft.” Der psychische Druck nehme zu. Tafel-Aktive engagierten sich, weil sie etwas gegen Lebensmittelverschwendung tun und armutsbetroffene Menschen solidarisch unterstützen möchten. Zu sehen, dass Hilfen nicht ausreichten und dass von den eigentlich verantwortlichen Stellen die nötige Unterstützung für Menschen in Armut fehle, sei kaum zu ertragen. Jendis: „Immer mehr Tafeln fragen sich: Wie lange schaffen wir das noch?“
Geflüchtete werden ohne Rücksprache an Tafeln verwiesen
Die Tafeln Deutschland kritisieren, dass Sozialämter und Behörden in vielen Städten Geflüchtete weiterhin ohne Rücksprache an die Tafeln verweisen würden. Besonders bei vielen Menschen aus der Ukraine entstünde dadurch fälschlicherweise der Eindruck, dass Tafeln ein staatliches Angebot seien, auf das ein Anspruch bestehe. Als gemeinnützige, ehrenamtliche Organisationen bieten Tafeln jedoch Lebensmittel, die Einkäufe ergänzen, betont der Verein. „Es ist verantwortungslos, wenn Behörden Menschen zu einer Tafel schicken, ohne sich überhaupt zu erkundigen, ob die Tafel neue Kundinnen und Kunden aufnehmen kann“, betont der Vorsitzende Jochen Brühl, und fügt hinzu: „Wir helfen, so viel wir können, aber bleiben ein Zusatzangebot. Dass alle Menschen in Deutschland genug zu essen und zu trinken haben, muss der Staat gewährleisten, nicht das Ehrenamt.“
Jochen Brühl: Schluss mit der Gießkanne
Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armutsquote im vergangenen Jahr einen Höchststand von 16,6 Prozent erreicht. Die Folgen der Inflation und des Krieges sind dabei also noch nicht berücksichtigt. Die Tafeln rechnen nicht mit einer Entspannung, auch weil Energiekosten weiter steigen, und fordern deshalb von der Bundesregierung dringend ein neues Hilfspaket. Die bisherigen Hilfen verfehlten mehrheitlich diejenigen, die sie am dringendsten benötigen. Nach Angaben des Paritätischen Gesamtverbands kamen von den 29 Milliarden Euro aus dem Entlastungspaket der Bundesregierung nur zwei Milliarden Euro bei armutsbetroffenen Menschen an. Jochen Brühl: „Schluss mit der Gießkanne, die Regierung muss Soforthilfen beschließen, die Armutsbetroffene gezielt erreichen. Wir fordern zudem für das angekündigte Bürgergeld armutsfeste Regelsätze von mindestens 678 Euro.“