Ischinger: Der US-Schutzschirm hat keine Ewigkeitsgarantie
Der langjährige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, mahnt eine Stärkung der EU-Verteidigungsbereitschaft an. Zudem fordert er im Ukraine-Krieg mehr diplomatische Bemühungen: Zur Not müsse man sogar mit Kriegsverbrechern verhandeln.

Herr Ischinger, Einigkeit besteht darin, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen darf. Vermissen Sie aber in der politischen Debatte hierzulande, dass offenkundig sehr wenig darüber gesprochen wird, wie denn ein Sieg über Russland aussehen sollte?
Wolfgang Ischinger: Ja. Von einem „Sieg über Russland“ sollten wir möglichst gar nicht sprechen. Höchstens von einem – von uns erstrebten – Sieg der Ukraine bei der Verteidigung und Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität, ihrer Existenz.
Am Ende muss eine Friedenslösung stehen, ein jahrelanger Krieg wäre sicher ein Alptraum für Europa. Wie könnte eine solche Lösung aussehen?
Ischinger: Am Schluss wird vermutlich doch eine Art Verhandlungsfrieden ausgehandelt werden müssen. Hoffentlich wird das nicht eine vorübergehende, sondern eine dauerhafte Friedenslösung sein. Die Ukrainer müssen sicher in ihren eigenen Grenzen leben können.
In der Debatte über schwere Waffen wird oft damit argumentiert, dass auch andere Länder die Ukraine unterstützen, Deutschland dürfe deshalb nicht außen vor bleiben. Teilen Sie diese Einschätzung? Und macht es aus Ihrer Sicht einen Unterschied, ob z.B. die Slowakei und Tschechien schwere Waffen liefern oder Deutschland?
Ischinger: Durch die Gepard-Entscheidung der Bundesregierung ist diese Frage eigentlich beantwortet. Politisch ist es irrelevant, aus welchem EU- oder Nato-Land die Waffen kommen. Aber es hilft natürlich, wenn Systeme geliefert werden können, mit denen die ukrainische Armee bereits vertraut ist.
Auch wenn in einigen Ländern wie Polen die Haltung Berlins kritisiert wird, so teilte beispielsweise Macron gerade die Haltung des Bundeskanzlers. Haben Sie Verständnis für die Zurückhaltung des Kanzlers in der Frage der Waffenlieferungen?
Ischinger: Bundeskanzler Scholz hat diese Zurückhaltung ja jetzt überwunden. Das begrüße ich.
Sie warnten jüngst vor Kriegseuphorie in Deutschland. Woran machen Sie Ihre Sorge fest?
Ischinger: Ich staune, wie eine ganze Reihe früherer Pazifisten sich jetzt als Waffenexperten hervortun. Ja: Die Waffenlieferungen sind natürlich sehr wichtig, aber wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir politisch zu einem möglichst baldigen Kriegsende beitragen können.
Sie vermissen also Raum für Zwischentöne in der Debatte?
Ischinger: Ich vermisse vor allem, dass über die wichtige Frage kaum geredet wird, wie die Europäische Union als außenpolitischer Akteur glaubwürdig gestärkt werden kann, und wie sie sich selbst und ihre Grenzen künftig besser verteidigen kann. Der amerikanische Schutzschirm, den wir durch die Nato haben, und für den wir dankbar sein sollten, hat keine Ewigkeitsgarantie.
Vermissen Sie auch Diplomatie? Braucht es mehr Initiativen wie des UN-Generalsekretärs?
Ischinger: Auch wenn es aussichtslos erscheint, kann der Versuch, mit Russland im Gespräch zu bleiben, nicht falsch sein. Diplomatie ist, mit Gegnern und Feinden zu reden und zu verhandeln, und wenn es sein muss, auch mit Kriegsverbrechern.
Die Invasion Russlands scheint nicht voranzukommen, Putins Armee musste bereits starke Verluste hinnehmen. Glauben Sie vor diesem Hintergrund, dass Putin einen konventionellen Krieg gegen weitere Länder, beispielsweise die baltischen Staaten, führen will und wird?
Ischinger: Will er vielleicht, wird er aber militärisch gar nicht können.
Sind konventionelle Kriege zwischen Nato und Russland oder gar China überhaupt führbar, wären sie zu gewinnen? Oder verbietet das atomare Gleichgewicht des Schreckens auch jede konventionelle Auseinandersetzung?
Ischinger: Es ist richtig, eine direkte Konfrontation zwischen Nato und Russland möglichst zu vermeiden, weil das sonst die Gefahr von militärischen Missverständnissen bzw. die Gefahr nuklearer Eskalation nach sich ziehen könnte.
Wenn man schon in der Vergangenheit zu wenig darauf gehört hat, was Putin will - sollte man nun genau hören, was Lawrow bezüglich eines Weltkrieges sagt?
Ischinger: Wir müssen uns zu diesen überlebenswichtigen Fragen sehr sorgfältig unsere eigenen Gedanken machen. Von Einschüchterungsversuchen seitens Putin oder Lawrow sollten wir uns aber nicht beeindrucken lassen.
Zur Person: Professor Wolfgang Ischinger, geboren am 6. April 1946 in Beuren, leitete ab 2008 (als Nachfolger von Horst Teltschik) bis Anfang 2022 die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). Der Jurist und Diplomat war von 1973 bis 1975 als Mitarbeiter im Kabinett des UN-Generalsekretärs in New York tätig. 1975 trat er in den Auswärtigen Dienst (AA) in Bonn ein. Er war Persönlicher Referent und später Leiter des Parlaments- und Kabinettsreferats des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) sowie in der Amtszeit von Außenminister Joschka Fischer (Grüne) beamteter Staatssekretär. Von 2001 bis 2006 amtierte er als Deutscher Botschafter in den USA, von März 2006 bis Ende April 2008 als Botschafter im Vereinigten Königreich. Seine Nachfolge al MSC-Chef hat kürzlich der Diplomat Christoph Heusgen angetreten.