
Kaum einer verzichtet auf Brille oder Kontaktlinsen, wenn er schlecht sieht. Aber bei schlechtem Gehör tragen bei Weitem nicht alle ein Hörgerät. Das hat negative Folgen, die weit über das Hören hinausreichen. „Eine nicht ausreichend versorgte Schwerhörigkeit kann immense Auswirkungen auf die Gesundheit eines Menschen haben“, betont Veronika Wolter, Chefärztin der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und der Helios Hörklinik Oberbayern, anlässlich des heutigen Welttags des Hörens.
Wenn man schlecht hört, ist es bei Weitem nicht damit getan, seine Gesprächspartner zu bitten, deutlicher zu sprechen oder den Fernseher lauter zu stellen. Oft gehe schlechtes Hören auch mit gesundheitlichen Problemen wie Schwindel einher. Die Folge: Es komme zu einer „fünf-bis sechsmal höheren Sturzwahrscheinlichkeit“, warnt Veronika Wolter. Denn gerade bei einer einseitigen Ertaubung fehle die räumliche Orientierung.
Zudem belastet eine unbehandelte Schwerhörigkeit auch die mentale Gesundheit. So könne es laut Wolter - auch bei jüngeren Menschen - „zu erheblichen Auswirkungen im sozialen Bereich kommen. Viele Patienten neigen zu Depressionen, gesellschaftlicher Isolation oder Arbeitsunfähigkeit“.
Versorgungsgrad Forschende der Universität Mainz werteten 2023 Daten von 5024 - Menschen aus vom jungen Erwachsenen bis zum Über80-Jährigen. Dabei stellten sie fest, dass knapp die Hälfte der Teilnehmenden nach der sogenannten Hilfsmittel-Richtlinie die Voraussetzung für ein Hörgerät auf beiden Seiten erfüllte. Aber lediglich 7,7 Prozent waren tatsächlich mit zwei Hilfsgeräten versorgt.

Zwei weitere Ergebnisse der Studie: Das Hörvermögen von Frauen war im Schnitt besser als das der Männer. Zudem stieg mit zunehmendem Alter die Rate an Hörstörungen deutlich.
Als Grund für die Unterversorgung mit Hörgeräten bei Betroffenen führen Experten jedoch nicht nur falsche Vorstellungen von modernen Hörgeräten an. Eva Keil-Becker, Vizepräsidentin der in Mainz ansässigen Europäischen Union der Hörakustiker (EUHA) betont, dass ein Hörverlust auch „ein schleichender Prozess“ ist. „Bis man es bemerkt, dauert es im Schnitt sieben Jahre.“ Laut EUHA leiden 5,4 Millionen Menschen in Deutschland unter einer Hörminderung darunter mehr als 500 000 Kinder. „Betroffene selbst wissen oft nicht, wie schlecht sie tatsächlich hören. - Deshalb ist es in der Regel auch so, dass das Umfeld die Veränderung zuerst bemerkt“, führt Medizinerin Wolter aus.
Kostenlose Tests Betroffene spüren hingegen vor allem, wie sehr Hören sie anstrengt, was sich wiederum in Aggressionen äußern kann. Wolter: „Es macht wütend, wenn man in einem Gespräch mit mehreren Personen zweimal nachfragt und das Gesagte immer noch nicht verstanden hat.“
Wer über einen längeren Zeitraum verstimmt ist, unter Schlaf-, Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme oder psychischen Erkrankungen leidet, sollte deshalb sein Gehör beim HNO-Arzt oder Hörakustiker untersuchen lassen. In Heilbronn und in der Region werden die Tests - vielfach kostenlos angeboten.
Risikofaktor Weiteres Argument: Wer schlecht hört, hat auch ein erhöhtes Demenz-Risiko. Eine internationale Forschergruppe (The Lancet Commission on Dementia and Prevention) listet zwölf Faktoren auf, die das Alzheimer-Risiko erhöhen-Hörverlust ist einer davon. „Das Gehirn braucht Input“, erklärt der Leiter des Kölner Alzheimer Präventionszentrums, Frank Jessen. Sein Appell: Ein Hörgerät sollte ebenso selbstverständlich sein wie eine Brille.
Von Andrea Eisenmann und Sandra Trauner
Welttag des Hörens
Heute am 3. März jährt sich der Welttag des Hörens zum fünfzehnten Mal. Unter dem Motto „Mehr verstehen, mehr erleben“ rufen die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Bundesverband der Hörsysteme-Industrie (BVHI) die Öffentlichkeit zur Prävention und Versorgung von Hörminderungenauf. Der Aktionstag wird von einem breit aufgestellten Netzwerk aus Expertinnen und Experten wie HNO-Ärzten, Hörakustikern, Kliniken, Cl-Spezialisten und Audio-Therapeuten, Logopäden sowie Hörtrainern unterstützt. Die Schirmherrschaft hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) übernommen.
ae