
Der Bruder von Helga Merkel war einer der ersten, der es bemerkte.„Du hörst doch schlecht“, forderte er seine Schwester auf, sie möge doch einmal einen Fachmann aufsuchen und sich untersuchen lassen. „Ich habe das Problem allerdings nicht als so groß und wichtig erachtet“, gesteht die 72-Jährige aus Untergruppenbach. Natürlich fällt es ihr zunehmend schwer, in größeren Runden Gesprächen zu folgen und sicherlich, es häuft sich, dass sie nachfragen muss, wenn sie etwas nicht verstanden hat. Oder nicht reagiert, wenn sie jemand von hinten anspricht. Aber das kann ja auch am vermeintlichen Nuscheln der Gesprächspartner liegen, an störenden Nebengeräuschen oder an der Klangqualität von Radio oder Fernsehen. Und letztere lassen sich ja problemlos lauter machen - oder gegebenenfalls untertiteln. „Im Rückblick muss ich sagen, dass ich in den Jahren eine Reihe von Strategien für mich entwickelt habe, um mich dem Problem nicht zu stellen.“
Lippenlesen Das merkt sie vor allem während der Corona-Zeit, als ihr die Menschen in der Öffentlichkeit mit Maske begegnen. „In der Pandemie fiel es mir besonders schwer, meine Gesprächspartner zu verstehen. Vielleicht, weil ich bis zu diesem Zeitpunkt unbewusst viel von Lippen und Mimik abgelesen hatte.“
2024 ist offenbar eine Grenze erreicht, die frühere Grundschullehrerin lässt sich von einem Hals- Nasen-, Ohrenarzt untersuchen. Dessen Diagnose kommt nicht unerwartet: „Sie brauchen dringend ein Hörgerät“, lautet sein Fazit. Der Hörverlust auf Helga Merkels rechtem Ohr beträgt etwa 40 Prozent, auf dem linken sind es 30 Prozent.
Seit Mitte Dezember trägt die 72-Jährige nun eine Hörhilfe. Unauffällig lugt das beigefarbene Gerät hinter den Ohren hervor. Ein mehrwöchiges „Hörtraining“, mit dem unter anderem der Bereich Sprachverstehen verbessert und gestörte Hörfilter reaktiviert werden, hat sie bereits abgeschlossen. Die Feinjustierung der Einstellungen am Hörgerät stimmt. Helga Merkels Alltag hat sich seitdem komplett verändert. „Es ist wie neues Leben“, ist sie überzeugt. Sie sei jetzt wieder in der Lage, am Geschehen um sie herum aktiver teilzunehmen - obgleich sie ihren Hobbys wie Tennisspielen und Sprachenlernen auch davor nachgegangen sei. „Es war nicht so, dass ich mich wegen meiner Hörschwäche komplett isoliert hätte. Aber es ist jetzt anders - besser.“
Schockerlebnis Ein besonderer Moment, erzählt sie, sei es gewesen, als sie zum ersten Mal mit der Hörhilfe das Geschäft des Hörakustikers verlassen hätte. „Ich nahm plötzlich eine Flut an Geräuschen wahr, die ich zuvor gar nicht mehr gehört hatte.“ Das Quietschen der Stadtbahn beispielsweise oder das Klicken des Autoblinkers, zählt sie auf. Als sie sich in ihr Fahrzeug setzt, dreht Helga Merkel als Erstes die Lautstärke ihres Radios herunter. „Es war ein richtiger Schock, denn da wurde mir erst so richtig bewusst, wie schlecht ich bis zu diesem Zeitpunkt alles gehört hatte.“
Sich die körperliche Schwache einzugestehen, fällt vielen Betroffenen schwer. Das hat auch der Heilbronner Hörakustikmeister Andreas Beuchert festgestellt. Die Angst vor einer vermeintlichen Stigmatisierung ist ein Grund. Aber nicht der einzige. „Oft genug wird eine Hörschwäche auch heute noch mit Alter und Gebrechlichkeit gleichgesetzt“, weiß er. Dabei sind die Zeiten, als Großvaters Hörgerät ein Kabel zur Batterie in der Jackentasche beinhaltete, längst vorbei. Diskret und unauffällig - diese Adjektive treffen heute auf fast alle Modelle zu. Viele der aktuellen Hörgeräte nutzen nicht nur digitale Technologien, sondern integrieren auch drahtlose Konnektivität, um mit anderen Geräten zu kommunizieren.
Folgen Durch die Unterversorgung verstreicht in vielen Fällen allerdings wichtige Zeit. Mit negativen Folgen: Das Gehirn verlernt zu hören, es kennt verschiedene Geräusche nicht mehr. Wenn nach vielen Jahren der Hörbeeinträchtigung mit einem entsprechenden Gerät darauf „reagiert“ wird, sind viele Betroffene mit der Situation zunächst überfordert.
Überfordert, sagt Helga Merkel, sei sie mit dem neuen Hörgefühl bisher nicht gewesen. Aber es komme vor, dass ihr in der Gesellschaft von vielen Menschen viele Reize begegnen, Stimmengewirr samt Nebengeräuschen kann anstrengend sein. Sie lacht. „Im Grunde ist das kein großes Problem. Ich stelle mein Hörgerät dann zwei Stufen leiser.“
Studie: Mehr Menschen tragen Hörgeräte
Immer mehr Menschen, die mit einer Schwerhörigkeit leben, entscheiden sich offenbar für Hörsysteme. Zu diesem Ergebnis kommt die EuroTrak Deutschland Hörstudie 2025. Während im Jahr 2022 noch 41 Prozent der Menschen mit selbst wahrgenommener Hörminderung Hörgeräte trugen, sind es drei Jahre später 47 Prozent. Gemäß der Studie, die im Auftrag der Europäischen Vereinigung der Hörsysteme-Hersteller (EHIMA) und des BVHI durchgeführt wurde, gaben 12,6 Prozent der Erwachsenen in Deutschland (10,47 Millionen Menschen) an, mit einer Hörminderung zu leben. 18 Prozent lassen diese nicht HNO-ärztlich abklären und verzichten auf eine Diagnose und mögliche Therapieempfehlung.
Diejenigen, die ihre Schwerhörigkeit hörakustisch versorgen lassen, sind offenbar zufrieden: So berichten 97 Prozent der Befragten, dass sich ihre Lebensqualität nach ihrer Versorgung mit Hörsystemen zum Teil deutlich verbessert hat. Darüber hinaus geben wesentlich mehr Hörgeräteträger an, mit ihrer Schlafqualität zufrieden und abends seltener erschöpft zu sein als Menschen, die ihre Schwerhörigkeit unversorgt lassen. Sie berichteten von einem aktiveren Sozialleben, erhöhten Sicherheitsgefühl und allgemein gesteigerten Selbstvertrauen. Die Effekte wirken sich nach Angabe der Befragten zudem positiv auf die individuelle berufliche Leistungsfähigkeit aus: 96 Prozent der berufstätigen Hörgeräteträger geben an, dass sie von ihren Hilfen im Job profitieren. 55 Prozent sind zudem der Meinung, dass sie damit länger berufstätig sein können.
dpa