Leben ohne Druck und Stress

Viele ältere Menschen haben nie gelernt, sich selbst Gutes zu tun - Doch neue Verhaltensmuster zahlen sich aus

Ein Moment für sich selbst. Sich selbst das süße Nichtstun zu gönnen, müssen manche Menschen erstmal lernen. Foto: Christin Klose/dpa

Es kann der frisch gebrühte Kaffee am Morgen sein, der Spaziergang mit der Nachbarin oder die Gartenarbeit: Alles, was guttut, dient der Selbstfürsorge. Manche sagen dazu auch „Me-Time“, Selbstliebe oder Achtsamkeit.

Gut zu sich selbst sein: Für viele junge Menschen ist das ein essenzieller Bestandteil der Lebensplanung. Ältere hingegen haben teilweise nur Berührungspunkte wenige mit dem Thema. „In der Jugendzeit der heutigen Senioren dominierten Werte- und Erziehungsvorstellungen, die eher vermittelten, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, sich selbst nicht in den Mittelpunkt zu stellen“, sagt die Psychotherapeutin Barbara Rabaioli-Fischer.

Sie weiß: Das Festhalten an diesen Wertvorstellungen kann beim Aufbau von Selbstfürsorge Probleme bereiten. Wer sich aber darauf einlässt, seine Überzeugungen zu verändern, kann auch im fortgeschrittenem Alter neue Verhaltensmuster erlernen.

„Oft ist Disziplin eine wichtige Wertvorstellung dieser Generationen.“
Barbara Rabaioli-Fischer

Mehr noch: „Oft ist Disziplin eine wichtige Wertvorstellung dieser Generationen. Die hilft den alten Menschen dann dabei, sich noch viel intensiver in neue Verhaltensweisen einzufinden“, sagt Rabaioli-Fischer.

Doch was ist Selbstfürsorge denn nun genau? „Ich verstehe es als einen gelassenen, liebevoll sorgenden Umgang mit sich selbst, um das eigene Wohlbefinden zu fördern“, sagt Professor Simon Forstmeier, Entwicklungspsychologe an der Universität Siegen.

Möglichkeiten Selbstfürsorge kann dabei ganz unterschiedlich aussehen: Damit können in Abgrenzung zu Verpflichtungen - angenehme Aktivitäten gemeint sein: Unternehmungen mit Freunden und Familie, Bewegung, kulturelle Ausflüge, Momente der Kreativität, Hobbys. Aber auch das bewusste Genießen kann dem Wohlbefinden - und damit der Selbstfürsorge - dienen. „Ich kann ein Getränk einfach herunter kippen oder ich konsumiere es genussvoll und spüre den Geschmack nach“, nennt Forstmeier ein Beispiel. Selbstfürsorge kann aber auch im Kopf beginnen: in Form von liebevollen Gedanken statt Härte gegenüber sich selbst. Dabei geht es darum, sich selbst zu erlauben abzuschalten, etwas nur für sich zu tun. Auch Hilfe in Anspruch zu nehmen, kann Selbstfürsorge sein. Wird das tägliche Kochen zu viel, darf man ohne schlechtes Gewissen den Lieferdienst in Anspruch nehmen - oder sich ein Gericht aus dem Tiefkühlfach auftauen.

Strukturen Um neue, selbstfürsorgliche Verhaltensmuster umzusetzen, macht es Sinn, sich erst die alten Strukturen anzuschauen. „Ich empfehle, zwei Wochen lang aufzuschreiben, womit man seine Zeit verbringt. Was tut jemand schon an Selbstfürsorge, was sind Pflichtaufgaben, was ungenutzte Zeit?“, sagt Simon Forstmeier.

Im nächsten Schritt gehe es darum, zu überlegen, an welchen neuen Gewohnheiten man Gefallen finden könnte oder ob es Wege gibt, bestehende Aktivitäten angenehmer zu gestalten. Dabei kann es sich lohnen, die Fragen zu stellen: Was hat mir früher Spaß gemacht - habe ich darauf wieder Lust? Dieser Prozess ist individuell und hängt von den eigenen Bedürfnissen und Vorlieben, aber auch dem Angebot vor Ort ab.

Um neue Gewohnheiten in den Alltag zu integrieren, empfehlen die Experten, sie zunächst als feste Termine in den Wochenplan aufzunehmen. Das gilt sowohl für die Gymnastik-Stunde als auch den Spaziergang an der frischen Luft. „Das fühlt sich am Anfang etwas mechanisch an, doch so startet man häufig neue Gewohnheiten“, sagt Simon Forstmeier.

„Ich empfehle, zwei Wochen lang aufzuschreiben, womit man seine Zeit verbringt.“
Simon Forstmeier

Neuer Alltag Ferner empfiehlt er einige Wochen später die Reflexion: Haben die neuen Gewohnheiten Platz im Alltag gefunden oder muss nachjustiert werden? Sind andere Ideen aufgekommen? Stück für Stück lässt sich auf diese Weise ein Alltag mit mehr Selbstfürsorge aufbauen.

Wer Schwierigkeiten hat, sich auf mehr Selbstfürsorge einzulassen, dem sind womöglich die eigenen Wertvorstellungen in die Quere gekommen. Es lohnt sich, sie zu hinterfragen. Gibt es nur Pflichten im Leben? Wie kann ich Druck und Stress herausnehmen?

Situation „Schauen Sie, was Sie an Pflichten zugunsten schöner Tätigkeiten weglassen können“, rät Rabaioli-Fischer. „Wer stört sich denn daran, wenn die Wohnung nicht täglich gestaubsaugt wird? Es geht darum zu schauen, welche Werte und Ideale zur jetzigen Lebenssituation passen.“

„Selektion“ nennt Forstmeier diesen Prozess. Und der wird gerade im Alter immer wichtiger: „Wenn wir älter werden, müssen wir unsere Ziele immer wieder an die sich ändernde Realität anpassen“, sagt der Wissenschaftler. Wer etwa einst beim Gärtnern entspannte, dies aber langsam nicht mehr kann, dem macht vielleicht ein Hochbeet Freude - oder Kräuter auf der Küchenfensterbank. „So schafft man wieder Zugang zu selbstfürsorglichen Aktivitäten, von denen man dachte, sie wären weggebrochen“, sagt Simon Forstmeier. dpa

Von Anke Dankers