Die Ruhe der Skispringer vor dem Stresstest
Rückkehrer Severin Freund ist vor dem Start der Vierschanzentournee noch ein Suchender.

Die Vierschanzentournee ist der ultimative Stresstest: Je nachdem wie die tollen Tage bis Dreikönig in den Kalender fallen, springen die Athleten mehr oder weniger zehn Tage durch. Die am Samstag in Oberstdorf mit der Qualifikation beginnende 67. Vierschanzentournee ist anders: weil vor den stressigsten Tagen der Saison ungewöhnlich viel Zeit ist.
Zwischen den Weltcupspringen im russischen Nischni Tagil (1./2. Dezember) und dem Auftaktspringen in Oberstdorf gingen lediglich die Wettbewerbe in Engelberg (15./16. Dezember) über den Schanzentisch. Die diesmal langatmige Vorbereitung auf die Tournee ist, so sagt es Bundestrainer Werner Schuster, "Fluch und Segen zugleich". Vor allem für Severin Freund. Er hat keinen Wettkampfrhythmus. Er hat noch überhaupt gar keinen Rhythmus.
Zeit zum Entwickeln
Die zwölf wettkampffreien Tage für dem Tourneestart sind ein Segen für den Rückkehrer, der eineinhalb Jahre mit den Folgen von zwei Kreuzbandrissen und nicht mit dem Tourneestress gekämpft hat: Der 30-jährige hat Zeit, sein Flugsystem weiter hoch zu fahren. Andererseits ist da der Fluch von Engelberg: "Ganz wenige Schanzen kann Severin nicht", sagt Werner Schuster. "Eine ist die in Engelberg. Hier ist es extrem bitter für ihn, hier kann er seinen Sprung nicht weiterentwickeln." Severin Freund wurde 47. und 50. - vergleichbar schlecht war er zuletzt vor elf Jahren. Auch in Engelberg.
Der Olympiasieger, der Weltmeister, der Gesamtweltcupsieger, er war geknickt. Der Mann aus Rastbüchl wirkte rastlos und ratlos. Mehr tun? Weniger tun? Skispringen ist eine verflixt komplizierte Sportart. Vor allem wenn man eineinhalb Jahre zum Zuschauen gezwungen war. "Es kann manchmal sehr blöd sein und sehr bitter", sagte der Student nach dem enttäuschenden Wochenende in der Schweiz. "Aber das Letzte, was ich machen würde, ist aufgeben." Sonst würde er sich jetzt nicht auf seine elfte Tournee vorbereiten.
Prägende Persönlichkeit Freund
Werner Schuster weiß, was er an Severin Freund hat. Die Erfolge des 22-maligen Weltcupsiegers waren in den mageren Zeiten arbeitsplatzsichernd für die Trainer. "Er hat das deutsche Skispringen geprägt. Wenn er etwas kann, dann ist das kämpfen", sagt Werner Schuster über Severin Freund. Und der kämpft. Um die optimale Ansteuerung in seinem Körper beim Sprung. Um den Anschluss im Team. Jahrelang war Freund das Gesicht der DSV-Adler, derzeit ist er die Nummer sieben im Fliegerhorst.
Für die Tournee gibt es eine Einsatzgarantie von Werner Schuster: "Bis Garmisch-Partenkirchen springt Severin mal ganz sicher, und dann muss es erst mal sieben Bessere geben." Aber der Erfolgstrainer des Deutschen Skiverbandes (DSV) sagt auch: "Bei diesem Verdrängungswettkampf muss Severin aufpassen, dass er den Zug jetzt noch erwischt. Wir werden ihn unterstützen, aber da gibt es irgendwann auch keine Gnade mehr, das ist schon Leistungssport, entweder ist man unter den besten Sechs oder nicht." Friss oder stirb, Adler.
Noch viele Hausaufgaben
Der Ausnahmesportler mit dem rosa Kopf(-Sponsor) weiß, dass er bei der Tournee diesmal keine rosa Zeiten vor sich hat. Er weiß, dass er die Zeit bis Samstag nutzen muss. Er weiß, dass es nicht um die Gesamtwertung gehen kann. Der junge Familienvater hat eine Menge Hausaufgaben zu erledigen bis Samstag. "Das Ziel muss es sein, weiter an der Technik zu arbeiten und da besser zu werden", hat Severin Freund in Engelberg gesagt. "Körperlich ist es wahrscheinlich auch nicht das Schlechteste, wenn man nochmal Ruhe findet." Die Ruhe vor dem ultimativen Stresstest.
Egal wie der ausgeht, egal ob Severin Freund beim Tourneefinale am 6. Januar in Bischofshofen noch dabei ist oder nicht: der dienstälteste DSV-Flieger tut der Mannschaft gut. "Obwohl er verletzt war, war er nie so richtig weg", hat Konkurrent und Kollege Markus Eisenbichler - die beiden waren einst schon gemeinsam auf dem Internat - im Oktober gesagt. "Ich finde es extrem angenehm, dass er wieder da ist. Er ist ein sehr ruhiger Mensch, ist sehr fokussiert, ich habe viel von ihm gelernt, speziell in den Jahren, als ich im Weltcup langsam gekommen bin. Es ist einfach schön, wenn ein so erfahrener Typ wieder da ist."