Videoschiedsrichter Pascal Müller aus Löchgau spricht über seine EM-Kollegen, die Anti-Meckerregel und ein Handspiel
"Die Auslegung macht das Spiel schöner", sagt Videoschiedsrichter Pascal Müller und blickt im Interview auf die Schiedsrichterleistungen bei der bisherigen EM.

Pascal Müller hat einen ganz besonderen Blick auf die Fußball-EM: Der 34-Jährige ist Video Assistent Referee (VAR). Wie hat der Videoschiedsrichter vom FV Löchgau die EM und die Leistung seiner Kollegen gesehen? Wann kommt die Anti-Meckerregel in der Bundesliga an? Und wann in der Kreisliga?
Herr Müller, die Schiedsrichterleistungen bei der EM sind grundsätzlich gut, oder wie sehen Sie Ihre Kollegen?
Pascal Müller: Ja, im Allgemeinen sind die Leistungen wirklich sehr gut, sehr positiv. Denn wir haben keine großen Diskussionen. Wenn, dann geht"s mal um eine Zweikampfbewertung oder eine Abstoß-/Eckstoßdiskussion. Aber es gibt natürlich eine Ausnahme.
Der von Anthony Taylor nicht gegebene Strafstoß im Viertelfinale zwischen Deutschland und Spanien.
Müller: Bei dieser Szene kann man nicht sagen, dass es klar schwarz oder klar weiß ist. Es ist eine Szene im Graubereich: Es gibt Argumente für ein strafbares Handspiel, es gibt Argumente dagegen. Die Entscheidung auf dem Platz lautete: weiterspielen, nicht strafbar. Jetzt muss der Videoschiedsrichter anfangen zu prüfen und sich nach dem VAR-Protokoll überlegen, ob die vom Schiedsrichter auf dem Feld getroffene Entscheidung klar und offensichtlich falsch ist. Das heißt, sie muss in schwarz oder weiß einkategorisiert werden. Wie gesagt gibt es Argumente für beides, es ist eine Grauszene. Somit hat der Videoschiri laut Protokoll keine Möglichkeit, einzugreifen.
Und wenn Mister Taylor entschieden hätte, dass es ein Elfer ist?
Müller: Dann wäre es auch keine Szene, in die der VAR eingreifen kann, da sie nicht klar falsch ist. Das Problem ist, dass in den Medien gerne in die Richtung schwarz oder weiß argumentiert wird. Die Wahrheit ist: Es gibt auch Graubereich-szenen. Und die werden nie so zu lösen sein, dass alle zufrieden sind.
Also bräuchte es eine Protokolländerung, um den Ablauf zu optimieren - damit Anthony Taylor sich beim nächsten Mal die Szene zumindest noch einmal anschaut?
Müller: Darüber kann man streiten, definitiv. Aber ich würde einen Schritt zurückgehen, es geht ja ums Handspiel.
Sie meinen, dass eher die Handspielregel angepasst werden müsste?
Müller: Vielleicht wäre es sinnvoll sie zu überdenken, ja. Das International Football Association Board macht die Regeln für die ganze Welt, und in diesem Board sitzen ehemalige Fußballer, top Leute, die alle hochintelligent sind: Wenn es eine einfache Lösung für das Handspiel gäbe, dann hätten wir sie schon seit langer Zeit. Es ist brutal schwierig und egal, wie man"s als Schiedsrichter macht, immer unbefriedigend. Die einfachste Lösung für uns wäre, dass jedes Handspiel strafbar ist. Wie dann das Spiel fortgesetzt werden soll, ist wieder eine andere Frage: Gibt es immer einen indirekten Freistoß? Oder wenn der Ball aufs Tor gegangen wäre, einen Freistoß beziehungsweise einen Strafstoß? Das Problem: Dann wird gezielt auf die Hände der Verteidiger geschossen - das macht auch keinen Sinn.
Wie lautet die aktuelle Regel genau?
Müller: Handspiel ist grundsätzlich einfach, die Regel reduziert sich im Grunde auf zwei Kriterien. Erstens: Absicht, ja oder nein? Bei Absicht unterstellen wir Schiedsrichter, dass die Hand zum Ball geht. Zweitens: unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche. Heißt: Wenn ich mit der Hand oder mit dem Arm meine Körper- oder Trefferfläche unnatürlich vergrößere, dann ist es ein strafbares Handspiel.
Was heißt "unnatürlich vergrößern"?
Müller: Wenn der Bewegungsablauf der Hand oder des Arms nicht zum Bewegungsablauf des Körpers passt. Ja, das ist komplex, das ist kompliziert. Deshalb streiten so viele über dieses Kriterium.
So wie im Fall des Schusses von Musiala an den Arm von Cucurella.
Müller: Der Arm war nicht direkt am Körper. Man kann sagen: Er kennt das Risiko, der Schuss wird aufs Tor kommen, er muss schauen, dass er seinen Arm wegbekommt. Man kann aber auch sagen, dass der Arm am Anfang viel weiter draußen war, er ihn zum Körper hinzieht und ihn nicht ganz wegbekommt. Wo soll er hin mit seinem Arm?
Zudem haben wir das geahndete zarte Handspiel des Dänen Joachim Andersen im Achtelfinale gegen Deutschland bei einer Flanke.
Müller: Da wäre eine Abgrenzung sinnvoll, wie es auch Bundestrainer Julian Nagelsmann angesprochen hat: Wenn der Ball in die Stuttgarter Innenstadt fliegen würde, dann könne er sich nicht beschweren. Aber wenn der Ball aufs Tor kommt, wäre es schon cool, wenn man irgendwie die Chance zurückbekommen würde in Form von einem Straf- und Freistoß. Jedenfalls war der Strafstoß im Dänemark-Spiel regeltechnisch korrekt.
Es dürfen nur noch die Kapitäne mit dem Schiedsrichter sprechen - was halten Sie von der neuen Auslegung in Sachen Unsportlichkeit?
Müller: Es macht viel mehr Spaß, ein Spiel zu schauen, wenn nicht die ganze Zeit fünf Spieler einer Mannschaft zum Schiedsrichter rennen und reklamieren. Das hat nur noch genervt. Die Auslegung macht das Spiel schöner zum Anschauen, hat sich wirklich etabliert.
Die Regeln sind auf der ganzen Welt gleich. Was ist aber mit dieser neuen Auslegung, die im Europapokal übernommen wird: Bekommen wir die Anti-Meckerregel auch ab sofort in der Bundesliga?
Müller: Der Deutsche Fußball-Bund ist grundsätzlich immer nahe bei der Europäischen Fußball-Union Uefa - es macht ja keinen Sinn, wenn in der Bundesliga nach anderen Auslegungen gespielt wird. Deswegen wünsche ich mir, dass es in Deutschland auch kommt. Knut Kirchner, neuer Geschäftsführer der DFB Schiri GmbH, ist seit 1. Juli im Amt. Er wird in Herzogenaurach im Trainingslager der Schiedsrichter Ende Juli, Anfang August die neuen Richtlinien vorgeben.
Wann könnte die neue Auslegung unten in der Kreisliga ankommen?
Müller: Man muss unterschieden. Wenn sie kommt, würde sie für den Elitebereich gelten, also die Bundesliga, 2. Bundesliga, 3. Liga. Die Umsetzung einer Auslegungsänderung - wenn mich einer anspricht, der nicht der Kapitän ist, hat es eine Gelbe Karte zur Konsequenz - ist eine Frage von Einheitlichkeit. Es ist sehr schwierig, so etwas im Ehrenamt flächendeckend zu platzieren. Dafür braucht es Schulungen, dafür braucht es Zeit. Wenn der eine die Änderung streng auslegt, der andere nicht, wird es problematisch.
Die Amateure diskutieren auch sehr gerne mit Schiedsrichtern ...
Müller: Deshalb hat der Württembergische Fußballverband ein Deeskalationsmodell getestet, das sogenannte Stoppmodell. Wenn ein Schiedsrichter merkt, dass die Stimmung brodelt und kurz vor der Eskalation steht, kann er das Spiel stoppen, so dass sich alle Gemüter beruhigen können. Das Stopp-Modell ist ein guter Ansatz für den Amateurbereich, weil praktikabler. Und das hat sich so bewährt, dass es bundesweit ausgerollt werden soll.
Was halten Sie von der halbautomatischen Abseitserkennung, die bei der EM zum Einsatz kommt?
Müller: Sehr viel, weil sie uns Videoschiedsrichtern die Arbeit erleichtert. In Deutschland haben wir die kalibrierte Linie. Das ist auch ein sehr gutes System, das aber händisch läuft - wir müssen die Linie manuell anlegen. Bei der Halbautomatischen Abseitslinie erfassen zwölf Kameras pro Spieler 50 Mal jede Sekunde 29 Körperpunkte aller Spieler, zudem ist im Ball ein Chip. Dieses System hat eine enorme Genauigkeit. Dabei muss man als Videoschiedsrichter eigentlich nur noch schauen, ob der Computer die richtigen Spieler für seine Berechnung ausgewählt hat.
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