Schausteller- und Zirkus-Pfarrer spricht von dramatischer Lage
Corona trifft eine eh schon gebeutelte Branche besonders hart. Der erfahrene Schausteller- und Zirkus-Seelsorger Johannes Bräuchle spricht mit der Stimme über die dramatische Lage am Rande der leeren Festwiesen und Zirkuszelte.

Schausteller- und Zirkus-Seelsorger Johannes Bräuchle über die dramatische Lage am Rande der leeren Festwiesen Schlimm. Auf diesen Nenner bringt Johannes Bräuchle die Situation von Schaustellern und Zirkusleuten, um die er sich als Seelsorger besonders kümmert. Wegen Corona herrscht auf Rummelplätzen und in Zelten seit über einem Jahr große Leere. Die Stimme fragt und hakt nach, auch wegen anderer Branchenprobleme.
Kirmes und Kirche: Wie passt das zusammen?
Johannes Bräuchle: Gut. Das Wort Kirmes setzt sich ja aus Messe und Kirche zusammen. In historischen Marktgemeinden hat es Tradition, anlässlich der Kirmes Gottesdienste zu feiern, bei denen Beschicker und Gerätschaften gesegnet werden. Nach dem Kirchgang geht der Markt mit Handel und Vergnügen los. Das bildet vielerorts seit Jahrhunderten eine Einheit.
Warum werden dann manche Branchenvertreter schief angeguckt?
Bräuchle: Die, die für Handel und Vergnügen sorgen, sind von jeher Reisende, also Reingeschmeckte, die nicht dazugehören. Da hält so mancher Bürger lieber Abstand.
Liegt es aber auch nicht daran, dass auf Rummelplätzen mitunter über die Stränge geschlagen wird?
Bräuchle: Aber nicht von dem der handelt oder das Vergnügen macht, sondern von dem, der konsumiert. Der trinkt sein Bier, was anfangs nett und gemütlich ist, aber nach der dritten Maß wird die Tonlage lauter und rauer. Dann brechen mitunter innerörtliche Konflikte auf. Da passiert das, was wir als Gruppendynamik bezeichnen. Das ist überall so, in Heilbronn, Stuttgart, Pforzheim.
Schreiten Sie da als Schlichter ein.
Bräuchle: Nein, ich bin für die reisende Gemeinde zuständig. Wenn es in einer Zirkus- oder Schaustellerfamilie Zoff gibt, dann werde ich mitunter schon gerufen.
Wie kamen Sie zu ihrem Job?
Bräuchle: Ich wurde von der Landeskirche Württemberg beauftragt, die Präsenz der Kirche auf Wirtschaftsmessen aufzubauen, zu beobachten, zu managen bis hin zum kirchlichen Zentrum auf der neuen Landesmesse. Es gibt natürlich auch Messen, auf denen kirchliche Themen berührt werden, Hochzeitsmessen, die Messe Diakonie und Reha oder die CMT, wo die kirchlichen Jugendfreizeit vorgestellt wird. Damit kam ich in den Dunstkreis dieses Wirtschaftsbereichs. Außerdem saß ich als Stuttgarter Stadtrat im Wirtschaftsausschuss, also dort, wo es auch um Messen, Märkte, Feste, Zirkusse geht. Schließlich hat mich die EKD gefragt, ob ich mich nicht auf der Südschiene vom Saarland bis Bayern um Schausteller und Zirkusmenschen kümmert will.
Was hat sich da in den letzten 20 Jahren verändert?
Bräuchle: Mehr und mehr laufen Zirkuskultur und Schaustellerei auseinander. Letztere sind heute sesshafte Unternehmer im Freizeitgewerbe, mit Eigenheim und Lager. In der Saison reist er von Festplatz zu Festplatz und kehrt wieder heim. Zirkusleute haben das verpasst. Sie sind Reisende ohne Bleibe, auch Winterquartiere sind flexibel. So bleiben Zirkusmenschen Fremde, über die man sich freut, wenn sie Attraktionen in den Ort bringen, die aber dann möglichst schnell wieder verschwinden sollten.
Auch bei Schaustellern gibt es solche und solche.
Bräuchle: Das ist wie überall. Ein Festwirt mit einem 5000-Mann-Zelt ist ein Großunternehmer, der Millionen bewegt. Ähnlich gibt es Fahrgeschäftsunternehmer wie die Familie Mack mit dem Freizeitpark Rust. Aber das Vergnügungsgewerbe lebt nicht von den Großen. Riesenrad und Achterbahn wirken als Magnete. Der Normalfall sind Karussell, Schießstand, Mandelwagen, Scooter, Büchsenwerfer. Auch wenn das oft den Eindruck des Hungerleiders macht, sind das zufriedene, vergnügte Leute. Die werden nicht reich, sind aber glücklich.
Wie sieht es in der Corona-Krise aus?
Bräuchle: Auch hier bewegen sich Zirkusleute und Schausteller in zwei Welten. Letzterer ist ein betriebswirtschaftlich denkender Mensch mit Steuerberater und allem drum und dran. Beim Zirkusmacher fehlt das alles, er ist von der Steuer befreit und bekam auch keine Überbrückungshilfen. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Kürzlich war ich in Würzburg, um ein Riesenrad einzuweihen, das sich eine Familie mit viel Mut und Vertrauen hat bauen lassen. Dabei habe ich den ersten aktiven Festplatz seit über einem Jahr besucht. Früher war das das Kiliani-Fest mit einer Million Besuchern. Jetzt stand das ein Riesenrad, ein Fliegerbetrieb, ein Kinderkarussell, ein Scooter, ein Schießwagen, ein Mandelwagen, ein Crepes-Stand. Ende. Ich habe die Familien besucht. Es war für alle der erste Einsatz seit einem Jahr, kein Folgeeinsatz in Sicht. Die Einnahmen dürften grad fürs Essen für einen Monat reichen, aber ihre Versicherungsleistungen kriegen sie da nicht reingespielt. Das zwingt viele in die Knie, macht sie verzweifelt.
Wie wird es nach der Krise aussehen?
Bräuchle: Für Zirkusleute gibt es keiner Alternative. Die sind so geboren und werden als solche sterben. Das heißt: Der Zirkus wird bleiben, ob er aber noch die Qualität hat, auftreten zu können? Die trainieren in der Krise weiter, damit sie fit bleiben, die versuchen als gebuchte Artisten in Einzelengagements auftreten zu können. Damit sie dran bleiben und sich ernähren können. Es gibt aber auch andere, wenige, die schnallen ab.
Haben Artisten keine Alternative?
Bräuchle: Nein. Am muss sich das vorstellen: Ein junger, starker, spritiziger Mann, der stellt ihnen das komplette Zirkuszelt auf, installiert die Technik, versorgt die Tiere, turnt auf dem Trapez und dergleichen. Und von einem Tag auf den anderen darf er das alles nicht mehr. Wir als normale Bürger sagen. Ah, dann guckst du halt nach einem Geschäft. Aber der kann sich nicht in eine geregelte Arbeitswelt einfinden. Das musste ich gerade jetzt in der Krisenzeit immer wieder feststellen. Das können wir uns gar nicht vorstellen.
Und Schausteller?
Bräuchle: Da ist es anders. Auch sie sind mit schwerem Gerät unterwegs, sind handwerklich begabt, also wechseln sie in Bauhöfe oder etwa zu Speditionen. Das sind Allrounder, wenn sie von klein auf beim Aufbau mithelfen. Die sind richtig fit und flexibel, sie werden in anderen Berufen unterkommen und überleben, wenn auch knapp bei Kasse und mit Schmalhans als Koch.
Gehen die Kinder zur Schule?
Bräuchle: Die Schaustellerkinder schon, da die Familie meist sesshaft ist, am Wohnort. Zudem gibt es für alle Kinder von beruflich Reisenden, auch für Diplomaten oder Bundeswehrfamilien, ein Schulungssystem. Aber bei Zirkuskindern ist das Problem, dass die Eltern nicht lesen und schreiben können. Die innerfamiliäre Förderung fehlt, die Kinder sind sich selber überlassen und im Lebensalltag fehlt ihnen - anders als in der Manege - die Disziplin.
Wie sehen Sie die Zukunft beider in unsere Event-Gesellschaft?
Bräuchle: Die Entwicklung der Schaustellerbranche sehe ich durchaus positiv, wobei auch die in Richtung Größe und Hightech geht. Die Zukunft der Zirkuswelt sehe ich sehr kritisch. Da gibt es zwar das Europafestival in Monaco, aber der kleine Zirkus wird sicher sterben, weil er die heute erwartete Qualität nicht mehr bringen kann. Insgesamt herrscht wegen Corona natürlich eine große Sorge um die Zukunft, da es keine Terminperspektive gibt. Laut Landesregierung dürfen Zirkusse erst wieder ab März 2022 reisen dürfen. Bei der Schaustellerei sind grad die kleinen, dezentralen Formate angesagt. Insgesamt heißt es: Schlimm, aber wir werden schon durchkommen. Insgesamt eine sehr durchwachsene Sache.
Zur Person
Johannes Bräuchle kam 1947 in Wurmberg bei Pforzheim zur Welt. Eigentlich ist der heute 73-Jährige seit 2013 im Ruhestand. Doch im Dienstauftrag arbeitet Johannes Bräuchle für die Zirkus- und Schaustellerseelsorge der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), zuständig für Baden-Württemberg, das Saarland und Westfranken. Nach dem Theologiestudium in Tübingen war Bräuchle unter anderem Jugendpfarrer in Baden-Württemberg und schließlich Projektreferent im Missionarischen Dienst. Als Stuttgarter Stadtrat (CDU) war er auch politisch aktiv. Beim Streit um Stuttgart 21 engagierte sich Bräuchle für den Bahnhofsneubau. Seine scharfe Kritik gegen S-21-Gegner mündeten in einer Anklage und Suspendierung vom Dienst – beides wurde später zurückgenommen.