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Wenn Kinder andere Kinder als Corona-Gefahr sehen

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Corona und die damit verbundenen Unsicherheiten beschäftigen junge Menschen sehr. Manche Kinder werden depressiv. Psychotherapeuten und ein Kinderarzt sprechen von den Risiken und davon, was Eltern tun können.

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Ein Kind steht mit seinem Vater vor einer Grundschule. Foto: Michal Kamaryt/CTK/dpa
Ein Kind steht mit seinem Vater vor einer Grundschule. Foto: Michal Kamaryt/CTK/dpa  Foto: Michal Kamaryt (CTK)

Schließen die Schulen wieder? Darf ich nur noch alle zwei Wochen in die Schule, lernen, Freunde treffen? Darf ich künftig nur noch mit einem einzigen Kumpel spielen? Und welcher soll das sein? Und vor allem: Will der auch mit mir spielen? Wie feiern wir Weihnachten? Sind Oma und Opa da, wenn Geschenke ausgepackt werden?

All das sind Fragen, die Kinder und Jugendliche aktuell umtreiben. Die einen mehr, die anderen weniger. Aber: „Da ist Druck im Kessel“, hat Carsten Schell festgestellt. Er ist Jugendpsychotherapeut mit einer Praxis in Leingarten. Durch die ganzen Begleiterscheinungen von Corona für das Leben der Kinder und Jugendlichen, durch die Nöte und Sorgen in den Familien nehmen depressive Verstimmungen bei Kindern zu. Horst Bertsch, Psychotherapeut in Neuenstein-Eschelbach, rät Eltern dazu, den Kindern die Regeln zu erklären und ihnen im familiären Umfeld Halt und Geborgenheit zu bieten.

Mehr Ausraster

Weder bei Schell noch bei Bertsch sind seit Corona vermehrt junge Patienten. Das liegt aber schlicht daran, dass die Kapazitäten sowieso schon erschöpft sind. Mehr geht nicht, sagt Schell. In den Telefonsprechstunden, die seit eineinhalb Jahren angeboten werden müssen, merke er aber zunehmend den Beratungsbedarf, sagt Schell.

Die Eltern sorgen sich wegen depressiver Symptomatiken bei ihrem Nachwuchs. „Die Kinder leiden unter Isolation und Einsamkeit, unter Kontaktarmut“, sagt Schell. Das kann sich verschieden äußern. In Angststörungen, beispielsweise. Oder darin, dass Kinder, die eigentlich schon wieder gut in der Spur gelaufen sind, wieder den Unterricht stören oder durch aggressives Verhalten auffallen. „Die Ausraster nehmen zu“, beobachtet Schell. 

Angst vor Verlusten

Die Angststörungen der Kinder seien nicht nur bezogen auf die Zukunft, sondern auch auf den Verlust der Eltern durch Krankheit. Oder sie entwickeln soziale Phobien. Durch den Verlust von Kontakten, mahnt Schell, sinke die soziale Kompetenz. Am meisten Sorge bereitet ihm, „dass die Kinder das menschliche Gegenüber als Gefahr begreifen“. Das sei hochproblematisch.

Ganz zu schweigen von der Idee, ein Kind dürfe nur noch einen einzigen Freund zum Spielen treffen. „Schon die pure Organisation eines solchen Vorschlags schafft Eifersucht, Neid und Streit“, sagt Schell und fragt, wie das eine Mutter mit fünf Kindern tun soll, wenn immer nur ein Kind kommen dürfte. Und wer sagt, dass Charlotte auch mit Amelie spielen will, wenn sie von ihr gewählt wurde? Und: Was sagt Sophie, wenn sie am anderen Tag erfährt, was Amelie und Charlotte gespielt haben? Das ist Nährboden für Rivalität. „Da schafft man ganz explosive Bedingungen.“

Nähe und Wärme geben

Bertsch hat diesen Vorschlag als befristet verstanden. „Falls das kommt, dann müssen wir es so  vermitteln, dass es für Kinder bewältigbar ist.“ Eine Möglichkeit könnte sein, digitale Wege des Kontakts zu finden, aber auch sehr viel analog in der Familie zu spielen. Auch könnten die Kinder aus zwei Haushalten sich treffen, damit dadurch Mehrfachkonstellationen entstehen.

Generell gelte: „Die Situation aktuell braucht Ventile. Heile Welt und erhöhte Anspannung zusammenzubringen, dazu benötigt man Ideen“, sagt Bertsch. Soziale Kontakte, rausgehen können und feste Strukturen und Erfolgserlebnisse sind antidepressiv wirksame Faktoren in normalen Zeiten. Das müsse nun anders gehen. Bertsch weiß um die Notwendigkeit von körperlicher, haltgebender Nähe. Die und besonnene Ruhe spüren, das sei nun in Familien wichtig, könne aber auch Stress sein, denn dort prallen verschiedene Bedürfnisse und Stimmungen aufeinander. „Wie befriedigend aber für alle, wenn es dennoch gelingt.“

Während die erste Phase der Schulschließung im Frühjahr noch ganz spannend war, verfolgen die Schüler die laufende Diskussion nun eher mit Sorge. Bertsch sagt: Sie aktualisieren die Erfahrungen vom Frühjahr und spüren die Emotionen im individuellen Lebensumfeld. Schell hat erfahren: „Schule ist zwischenzeitlich von zentraler Bedeutung.“ Denn dort können sich die Kinder und Jugendlichen noch treffen, das ist umso wichtiger, als sonstige Angebote von Vereinen und Gruppen fehlen. „Da sind die Erwartungen an die Schule nun noch ganz andere, da will man alles rausholen, was an sozialem Austausch möglich ist.“

Lösungen 

Zumal es viele Schüler gibt, die zwischenzeitlich nicht nur einmal erlebt haben, wie es ist, gar nicht mehr aus dem Haus zu dürfen. Werden Kinder als Kontaktpersonen identifiziert, werden sie zweimal getestet und unabhängig vom Ergebnis 14 Tage in Quarantäne geschickt, wobei sie sich auch von ihrer Familie isolieren sollen, erklärt Kinderarzt Hans Ulrich Stechele (Heilbronn). Dass Kinder zwei Wochen weggesperrt werden, nicht einmal im Park mit Abstand spazieren gehen dürfen: „Das stößt mir auf.“

Zumal es manche Kinder im Winter drei und vier Mal treffen könne. Keine rosigen Aussichten. Ganz schlimm wird es, wenn all das in einem wenig belastbaren familiären Umfeld passiert, von dort weitere Sorgen an das Kind herangetragen werden. Schell vermeidet es, vor seinen zwei (noch kleinen) Kindern über Politik zu reden. „Die merken Corona nur insofern, als sie sich öfter die Hände waschen.“ Unbedingt vermeiden solle man Polemik und Dramatik. „Halt und Geborgenheit bieten“, das ist auch der Tipp von Bertsch – und Lösungen suchen, statt impulsiver Meinung Platz zu machen.

Was fehlt den Kindern, die keinen Kontakt zu anderen haben? Was fehlt ohne Schule? Was fehlt ohne das Raufen auf dem Schulhof? „Selbstwertstärkende Erfahrungen“, sagt Bertsch. „Und phantasievolle Kinderwelten.“ Wobei: Wer hätte sich so etwas wie Corona vor zwei Jahren vorstellen können?

 

 

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