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Sportwissenschafter fordert: "Wir brauchen einen Bewegungspakt"

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Der Karlsruher Sportwissenschaftler Professor Alexander Woll hat die Corona-Folgen für Kinder und Jugendliche in Sachen Sport und Motorik untersucht. Im Interview spricht er über die Folgen von Bewegungsmangel und was nun getan werden muss.

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Professor Alexander Woll spricht über die Corona-Folgen für Kinder.
Professor Alexander Woll spricht über die Corona-Folgen für Kinder.  Foto: Anne Behrendt (Patrick Langer)

In der Motorik- und Modul-Studie hat Professor Dr. Alexander Woll vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit seinem Sportwissenschaftler-Team seit 2003 die motorische Leistungsfähigkeit und körperlich-sportliche Aktivität von mehreren tausend Kindern untersucht. Dabei wurden dieselben Kinder und Jugendlichen mehrmals in zeitlichem Abstand getestet. Im Interview spricht Woll über die Folgen von Corona.

 

Herr Professor Woll, wie hat sich das Bewegungsverhalten der Kinder in Corona-Zeiten verändert?

Alexander Woll: Jeder hat im Frühjahr 2020 gedacht: Durch Corona kommt auch die körperlich-sportliche Aktivität zum Erliegen, doch es kam anders. Im ersten Corona-Lockdown hatten Kinder 20 Minuten mehr Bewegung pro Tag als vorher. Eltern und Kinder waren daheim, das Wetter war gut und deshalb alle zusammen draußen und aktiv. Man muss allerdings relativieren: Der Medienkonsum hat noch stärker zugenommen. Die Kinder saßen eine Stunde am Tag mehr am PC, nur für Freizeitaktivitäten, wohlgemerkt. Also außerhalb vom Homeschooling.

 

Das heißt das Positive, das Mehr an Bewegung, es wurde vom Negativen aufgefressen?

Woll: Das kann man schon so sagen. Wir waren unterm Strich trotzdem froh, dass überhaupt eine Zunahme von Bewegung stattgefunden hat, weil der organisierte Sport in Schule und Vereinen ja im Frühjahr 2020 auf Null heruntergefahren war. Selbst die Spielplätze waren damals gesperrt.

 

Wie war die Situation im zweiten Lockdown in diesem Jahr?

Woll: Interessanterweise ist der Medienkonsum in der Freizeit nochmals um 20 Minuten pro Tag gestiegen, drei, vier Stunden waren da völlig normal, zusätzlich zum digitalen Unterricht. Die Bewegung ist 2021 im zweiten Lockdown völlig eingebrochen, gerade die Alltagsbewegung bei kleinen Kindern und Grundschulkindern. 

 

Was sind die Ergebnisse und Folgen von nun anderthalb Jahren Corona-Pandemie?

Woll: Sozial Schwächere leiden unter der Pandemie stärker. Gesundheitliche Probleme bei Kindern scheinen sich zu verstärken. Wer schon vorher Übergewicht hatte, der hat nochmals zugelegt. Psychische Probleme bei den Kindern haben um rund ein Drittel zugenommen. Die widerstandsfähigen Kinder sind dabei besser durchgekommen. Ein Fazit lautet deshalb: Die Krise wirkt als Brandbeschleuniger. Probleme, die schon vorher da waren, zeigen sich nun deutlicher.

 

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Was wird aus der Kinder-Generation Corona in zehn, 15 Jahren?

Woll: Dafür bräuchte es eine Glaskugel. Sind die Kinder in Zukunft weniger fit? Es wäre dringend notwendig, dass man sich das in Zukunft genau anschaut. Genau deshalb wollen wir die Motorik-Modul-Studie, die Anfang 2022 ausläuft, unbedingt fortführen. Vielleicht bringt Corona auch eine starke Generation hervor. Eine, die auch mal Verzicht üben musste. Und diese Kinder gehen vielleicht stärker heraus aus der ganzen Situation. Das wäre wünschenswert.

 

In den Schulen ist nun viel die Rede von Lernbrücken, von Förderprogrammen, um die Defizite wettzumachen. Da geht es um Deutsch, um Mathematik. Von Sport und Bewegung spricht niemand.

Woll: Wir brauchen auch ein Förderprogramm für Bewegung, Motorik und Gesundheit. Eine Bewegungsbrücke, sozusagen. Der Bund muss da Geld zur Verfügung stellen. Es braucht nicht nur einen Digitalpakt für die Schulen sondern auch einen Bewegungspakt! Das Problem auf politischer Ebene besteht darin, dass es kein „Bewegungsministerium“ gibt, niemand ist so recht zuständig, es mangelt an Koordination. Bei Hunden wurde schon in der Politik darüber diskutiert, ob diese jeden Tag das Recht auf eine Stunde Auslauf haben müssen. Wir wären schon sehr weit, wenn wir das für Kinder auch hätten – eine verlässliche, tägliche und qualifizierte Bewegungsstunde in den Kindergärten und Schulen wäre hier ein wichtiger Schritt.

 

Warum spielt das Thema Bewegung bei Kindern nur eine untergeordnete Rolle?

Woll: Kinder- und Jugendsport hat eben nicht die Lobby wie die Automobil-Industrie. Mein Wunsch wäre zum Beispiel, dass an einem Elternabend auch mal jemand beim Sportlehrer nachfragen würde: Wie sieht es denn mit der Motorik meines Kindes aus? Wenn der Matheunterricht ausfällt, stehen sofort alle Eltern auf der Matte. Fällt der Schulsport aus, dann interessiert das kaum jemand. Eltern sollten verstehen, dass Motorik etwas ist, was den Lebensweg meines Kindes entscheidend mitbestimmt. Neben der Motorik kann die gesundheitliche, soziale, emotionale und auch die geistige Entwicklung davon profitieren.

 

Wie lange sollten sich Kinder eigentlich pro Tag bewegen?

Woll: Mindestens eine Stunde pro Tag, moderat. Das heißt, sie sollten leicht ins Schwitzen kommen. Mehr als zwei Drittel der Kinder erreichen das Bewegungsminimum nicht, das es eigentlich bräuchte.

 

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Zu wenig Bewegung geht später oft mit einem zu viel an Gewicht einher.

Woll: Wir begleiten die Kinder der Motorik-Modul-Studie seit 18 Jahren. Aus einem übergewichtigen Kind unserer Studie wird mit einer Wahrscheinlichkeit von über 70 Prozent auch ein übergewichtiger Erwachsener. Mit allen gesundheitlichen und sozial-emotionalen Folgen, die da dranhängen. Man muss dafür sorgen, dass das Kind erst gar nicht übergewichtig werden kann.

 

Lange Zeit hat man bei der Diskussion zu Sport und Corona nur die potenziellen Infektionen gesehen.

Woll: Das war richtig, aber man hat aufgrund der starken Fixierung darüber vergessen, dass Sport ein ganz zentraler Schutzfaktor für die motorische, kognitive und gesundheitliche Entwicklung bei Kindern ist. Kinder brauchen Bewegung. Man hätte das auch in der Pandemie fördern und betonen müssen.

 

Hat das die Politik nicht verstanden?

Woll: Ich erinnere mich noch an den Video-Clip des Bundesgesundheitsministeriums, in dem es hieß: „Bleib auf der Couch, rette Leben.“ Der Inhalt hat mich total aufgeregt. Es war zwar richtig die Kontaktmöglichkeiten einzuschränken – zu Hause, in der Wohnumgebung zu bleiben. „Auf der Couch sitzen bleiben“ jedoch nicht. Es gibt inzwischen klare Belege dafür, dass Bewegung ein wichtiger Schutzfaktor für Groß und Klein in der Pandemie ist. Menschen, die sich viel bewegen, eine gute Fitness haben, bekommen Covid seltener. Sie haben auch eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen günstigeren Verlauf, wenn sie es bekommen.

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