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Geheimnisvolles Gehirn: Schmerzfrei, wenig mäkelig und superschnell

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Eine Psychologin der Experimenta erklärt, was unsere Kommandozentrale im Kopf leistet, warum wir uns ganz unterschiedlich erinnern können und wieso Nervenzellen kein Blutbad mögen.

von Carsten Friese
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Foto: pankajstock123/Fotolia
Foto: pankajstock123/Fotolia  Foto: pankajstock123/Fotolia (63519020)

Es bleibt für uns verborgen und steuert unaufhörlich unser Denken, Atmen, Gefühle, Handlungen. Ohne unser Gehirn, fettreiches Organ mit Milliarden von Nervenzellen, geht bei uns Menschen kaum etwas. Aus Anlass der Gehirn-Ausstellung in der Heilbronner Experimenta sprachen wir mit Neurologin und Ausstellungskoordinatorin Dr. Katrin Hille darüber, wie unsere Schaltzentrale tickt.

 

Milliarden Nervenzellen sind im Gehirn vernetzt, leiten Informationen oder Befehle über elektrochemische Impulse weiter. Wie warm ist es eigentlich dort, wenn es voll arbeitet?

Katrin Hille: Unser Gehirn wird oft mit großen Computern verglichen - es ist aber äußerst sparsam. Es verbraucht ungefähr so viel Energie wie eine 20-Watt-Glühbirne. Wie warm es dort ist? 37 Grad, wenn wir kein Fieber haben. Unser Körper bemüht sich stets, seine Temperatur konstant zu halten. Wenn er länger niedrigen Temperaturen ausgesetzt ist, sind ihm Finger, Zehen und Nasenspitze nicht so wichtig wie das Gehirn.

 

Unser Gehirn hat viele Bereiche: Großhirn, Kleinhirn, Zwischenhirn, verschiedene Lappen, das Limbische System. Welcher Teil ist der empfindlichste, der auf keinen Fall ausfallen sollte?

Hille: Wenn ein Teil ausfällt, wird es schwierig. Manche Funktionen sind lebenswichtig. Im Hirnstamm, in dem zum Beispiel die Atmung gesteuert wird, sollte besser nichts kaputt gehen.

 

Im Vergleich zu seiner Größe im Körper braucht das Gehirn aber relativ viel Energie - warum?

Hille: Beim Menschen verbraucht das Gehirn rund 20 Prozent der gesamten Energie. Wäre der Anteil kleiner, könnte es nicht so gut arbeiten. Dann wäre die gesamte Energiezufuhr gefährdet. In der Zeit, als sich das Gehirn des Homo sapiens entwickelte, ging es ums Überleben: das Aufspüren von Nahrung und den richtigen Umgang mit Gefahren. Da war ein gutes Gehirn wichtig. Die Menschwerdung fand schließlich nicht zu Zeiten voller Kühlschränke statt.

 

"Unser Gehirn verbraucht etwa so viel Energie wie eine 20-Watt-Glühbirne."

Dr. Katrin Hille

 

Was ist der entscheidende Brennstoff, den das Gehirn für seine Arbeit benötigt?

Hille: Für die meisten Menschen gilt: Wenn wir ganz normal essen, bekommt unser Gehirn alles, was es braucht. Ich bin kein Verfechter von sogenanntem Super- oder Brainfood. Die Nährstoffe, die im Gehirn ankommen, sind schon zerlegt. Dazu gehört auch Glukose. Ob die nun aus dem Reiskorn, dem Würfelzucker oder der Blaubeere kommt, ist vielleicht für den Speckgürtel, nicht aber für das Gehirn wichtig. Das Gehirn hat es sich im Laufe seiner Entwicklung nicht leisten können, mäkelig zu sein.

 

Wie schnell rasen Informationen zwischen den Synapsen im Gehirn hin und her?

Hille: Bei unserer Geburt leiten die meisten Nervenzellen ihre Impulse nur mit circa drei Metern pro Sekunde. Ist das Gehirn voll ausgereift, hat sich die Geschwindigkeit vervielfacht. Die Zellen leiten ihre Impulse dann mit bis zu 115 Metern in der Sekunde (414 km/h) - sie springen dann von einem Abschnitt zum nächsten.

 

In der Medizin gibt es heute überall Spezialisten für Reparaturen und Operationen. Was ist am Gehirn machbar, was ist nicht möglich?

Hille: Es ist beeindruckend, was an Gehirnreparaturen möglich ist. Dabei staune ich vor allem über die Fähigkeit des Gehirns, solche Reparaturen wegzustecken. Es gibt Patienten, denen als Kind das halbe Hirn herausoperiert wurde, die aber ein recht normales Leben führen können. Was nicht oder noch nicht geht, sind Transplantationen des gesamten Kopfes. Versuche dazu betrachte ich eher mit gemischten Gefühlen.

Vor dreieinhalb Jahren kam Katrin Hille zur Heilbronner Experimenta. Sie ist stellvertretende Bereichsleiterin für Ausstellungen und Leiterin der Besucherforschung. Foto: privat  Foto: Hille

Stimmt es, dass unser Gehirn schmerzfrei ist?

Hille: Das Gehirn hat keine Schmerzrezeptoren. Es ist durch die Schädeldecke geschützt, da kann nichts passieren - anders als bei anderen Körperregionen. Bei Kopfschmerzen tut nicht das Gehirn weh, da handelt es sich vermutlich um eine Entzündung der Hirnhäute. Wenn man Gehirntumore entfernt, muss das Gehirn nicht betäubt werden. Diese Operationen kann unser Gehirn auch ganz gut ausgleichen. Je jünger man ist, umso besser. Je älter wir sind, desto schwieriger wird es mit dem Wegstecken.

 

Ein Faszinosum ist unser Gedächtnis: Manche erlebten Dinge haben wir genau abgespeichert und können uns auch lange Zeit später genau daran erinnern. Andere Dinge sind nach einiger Zeit weg, gelöscht. Warum? Wie wird entschieden, was im Speicher landet und was nicht?

Hille: Es gibt nicht das eine Gedächtnis in unserem Gehirn. Es gibt mehrere. Und die funktionieren auch verschieden. Wer erinnert sich nicht an den ersten Kuss? Solche bedeutsamen Lebensereignisse werden im episodischen Gedächtnis gespeichert. Die muss man auch nicht mehrfach erlebt haben. Dann gibt es das prozedurale Gedächtnis. Es speichert Wissen um Prozeduren wie Fahrradfahren oder Schuhe binden. Hierzu bedarf es allerdings einiger Übung. Was oft als Gedächtnis bezeichnet wird, ist Teil des semantischen Gedächtnisses: Wieso wissen wir unsere alte Telefonnummer nicht mehr, können uns nicht mehr an Namen von Freunden erinnern oder bekommen den Zitronensäurezyklus nicht zusammen, den wir mal auswendig kannten? Weil wir damit nicht mehr genügend zu tun haben.

 

Grafik: dpa  Foto: Globus Infografik (dpa Grafik)

Was passiert genau bei einem Schlaganfall?

Hille: Das Gehirn braucht Sauerstoff und Nährstoffe. Beides bekommt es aus dem Blut. Ist aber ein Blutgefäß verstopft, können Teile des Gehirns zu wenig davon bekommen. Dann sterben die Zellen dort ab. Wenn der Sauerstoff komplett fehlt, leben die Nervenzellen nur noch rund fünf Minuten. Auch wenn eine Ader platzt und die Nervenzellen in ein Blutbad taucht, überleben sie das nicht. Beides wird umgangssprachlich als Schlaganfall bezeichnet. Das Wort kommt aus einer Zeit, da man noch nicht richtig wusste, was genau dabei im Gehirn los ist. Beides, zu wenig Blut als auch zu viel Blut an den falschen Stellen, führt zu schlagartigen, plötzlichen Ausfällen.

 

Ein Blick in die Zukunft: Unter Demenz leiden in Deutschland mehr als 1,5 Millionen Menschen. Wird sie heilbar sein in 20, 30 Jahren?

Hille: Altersdemenz lässt sich schon heute mildern und verlangsamen. Zudem haben wir in den letzten Jahren mehr über diese Krankheiten verstanden. Und je mehr wir verstehen, desto besser können wir heilen und vorbeugen. Es wäre schön, wenn wir in den nächsten 20, 30 Jahren keine Altersdemenzen heilen müssten, weil alle so gesund leben, dass sie kaum noch auftreten.

Zur Person

Katrin Hille (52) wurde in der Oberlausitz geboren, wuchs in Mecklenburg im früheren Kreis Ludwigslust auf. Sie studierte Psychologie in Jena, promovierte in Bamberg. Vor dreieinhalb Jahren kam sie zur Heilbronner Experimenta, ist stellvertretende Bereichsleiterin für Ausstellungen und Leiterin der Besucherforschung. Zuvor arbeitete sie am Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) der Universität Ulm.

 
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