2020 für Europa: Ein Jahr wie nie zuvor
Am Jahresanfang wähnte sich Europa in einer beispiellosen Aufbruchsstimmung. Dann kam Corona. Unser Jahresrückblick zeigt, wie viel die EU trotz Pandemie und Lockdown erreicht hat.

Nie zuvor – es sind diese Worte, die sich wie eine rote Linie durch das europäische Jahr 2020 zogen. Oft hatten sie einen bitteren Klang, aber nicht selten auch einen tröstenden und aufbauenden Beigeschmack.
Selbst in der Pandemie, einer Herausforderung, die es "nie zuvor" gegeben hatte, standen sich zwei Bilder gegenüber, die unfassbare Betroffenheit und Zuversicht bedeuteten: die Lastwagen, die in Bergamo die vielen, nach einer Infektion mit dem Coronavirus Verstorbenen abtransportierten. Aber eben auch die schwerkranken Covid-19-Patienten, die das fliegende Krankenhaus der Bundesluftwaffe aus Frankreich und Italien zur Behandlung nach Deutschland, Luxemburg und Österreich geholt hatte.
Am Jahresanfang noch Aufbruchstimmung
Europa wähnte sich am Jahresanfang noch in einer beispiellosen Aufbruchsstimmung. Im Februar hatte die Gemeinschaft das erste Klimaschutz-Gesetz der Welt verabschiedet. Das Ziel, bis 2050 alle 27 Mitgliedstaaten klimaneutral zu machen, war nicht mehr nur eine Vision, sondern eine Aktion, die die vom Brexit Ende Januar in ihrem Selbstverständnis getroffene Union wieder aufrichten sollte. Dazu passte der wachsende Optimismus, dass Deutschland viele der anstehenden Probleme lösen würde, wenn Berlin im zweiten Halbjahr erst einmal die halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft übernehmen würde.
Alles schien erreichbar: ein neues gemeinsames Asylgesetz, ein stabiler Haushalt für die nächsten sieben Jahre, ein Erasmus+-Austauschprogramm für noch mehr Studenten, Azubis und sogar Lehrkräfte, ein beispielloser Aufschwung in Sachen Digitalisierung. Dazu brummte die Konjunktur wie "nie zuvor".
Dann kam das Coronavirus
Dann kam das Coronavirus und überrollte die Gemeinschaft. Es riss die Mitgliedstaaten wie "nie zuvor" in eine Krise, die alle Bereiche des Lebens erfasste. Ausgangssperren, Lockdown, Geisterstädte, Grenzkontrollen – was für immer überwunden schien, war plötzlich wieder da. Die EU-Institutionen mussten mit ansehen, wie ihre Appelle für gemeinschaftliches Verhalten verhallten. Niemand hätte zuvor für möglich gehalten, dass man für Lebensmittel-Transporte auf den Autobahnen eine eigene Spur würde freihalten müssen. Doch die Gemeinschaft reagierte – wie "nie zuvor".
Innerhalb weniger Woche wurde ein akutes Hilfsprogramm über 540 Milliarden Euro bereitgestellt, ein Kurzarbeitergeld eingeführt, ein Aufbaufonds über 750 Milliarden Euro entworfen, sogar ein Sieben-Jahres-Etat in Höhe von 1,1 Billionen Euro zusammengebastelt. Doch es waren nicht nur diese Beträge, die die EU trotz der zweiten Welle wieder in die Spur brachten.
Die Idee, den Green Deal zur Blaupause des Wiederaufbaus zu machen, war – neben der gemeinschaftlichen Arbeit und Förderung der Impfstoff-Entwicklung – so etwas wie das Ausstiegsszenario aus der Krise. Zeitweise forschten Wissenschaftler in über 100 Labors der Union gleichzeitig und – was noch wichtiger war – zusammen an geeigneten Vakzinen. "Nie zuvor" entstanden wirkungsvolle Impfstoffe in dieser Geschwindigkeit, aber "nie zuvor" musste auch die Impfung ganzer Völker organisiert werden.
Währenddessen schoben die Europäische Kommission und das EU-Parlament die weiteren Initiativen an – moderiert von einer deutschen Ratspräsidentschaft, die ihr Arbeitsprogramm zur Seite legte und wie "nie zuvor" virtuell arbeiten musste. Vieles blieb liegen.
Kein Durchbruch beim Asylrecht
Auch 2020 schaffte die Union keinen Durchbruch beim Asylrecht, obwohl die Bilder des brennenden Flüchtlingslagers "Moria" auf der griechischen Insel Lesbos aufgerüttelt hatten. Aber das Nein der vier Ost-Länder Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei hielt nur noch einmal. Denn kurz vor dem Jahresende zerbrach die Anti-Brüssel-Koalition – und das ausgerechnet bei einem neuen Mechanismus, mit dem die Gemeinschaft so streng wie "nie zuvor" rechtsstaatliche Verstöße durch den Entzug von Fördergeldern ahnden kann. Polen und Ungarn, die aus Verärgerung über die neuen Regelungen den Haushaltsrahmen und den Aufbaufonds gestoppt hatten, zogen ihr Veto zurück. Allerdings erreichten sie Zusatzregeln, die den Mechanismus verzögern werden. Damit stand beides: die Bestimmungen zur Rechtsstaatlichkeit und ein Finanzpaket, das wie "nie zuvor" den Mitgliedstaaten unter die Arme greifen soll.
Dennoch blieb die EU eine Gemeinschaft der Suchenden. Elf Monate lang wurde ein Kompromiss mit dem Vereinigten Königreich über ein Handelsabkommen gesucht. So viele Ultimaten wie "nie zuvor" verstrichen. Gleichzeitig verharrte die EU wie in Schockstarre und hoffte dringlicher als je zuvor auf eine Wachablösung im Weißen Haus.
Stichwort: Strategische Autonomie
Während die Menschen sich um das Coronavirus und die zweite Welle sorgten, zog im Hintergrund ein Wort immer weitere Kreise: strategische Autonomie. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hatte die künftige Rolle der Gemeinschaft so zusammengefasst. Europa müsse seine Fähigkeiten zur Verteidigung erhöhen und sich darauf fokussieren, dass künftig kein starker Partner aus Washington mehr zur Verfügung stehen werde, um die Alliierten anzuführen. Dass die EU in diesem Jahr ihrem neuen Verteidigungsbündnis Pesco immer konkretere Züge gab, ging weitgehend unter.
Dabei befindet sich die Gemeinschaft längst auf einem vorgezeichneten Weg, der zu einem europäischen Heer führen könnte. Dies wurde nicht zuletzt durch eine Konfrontation im Mittelmeer befördert, wo Ankara mit einem Forschungsschiff vor der Küste der Nato-Partner Griechenland und Zypern nach Gas bohrte.
Die Staats- und Regierungschefs der Union griffen zwar nicht besonders tief in das Arsenal ihrer Strafmöglichkeiten, aber sie machten deutlich, dass man den aggressiven Kurs der Türkei nicht länger stillschweigend übergehen werde. Es war eine neue Entschlossenheit, zu der auch ein weithin unbeachteter Schritt im Dezember passte: Bisher konnte die Gemeinschaft nur solche Staatsführungen abstrafen, die ihr eigenes Volk unterdrückten – wie in Belarus. Nun aber sind Sanktionen auch gegen die Verantwortlichen von Staaten denkbar, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.