Wer in Lehrensteinsfeld in die Sakristei geht, landet in einer Wirtschaft
Dass eine Gaststätte "Zur Sakristei" heißt, ist nicht gerade typisch. Wie kommt man auf diesen außergewöhnlichen Namen? Die Antwort liegt in einer Zeit, als das Ortsbild von Lehrensteinsfeld noch ein ganz anderes war.
Es gibt da diese Anekdote eines Religionslehrers. Demnach verfolgte der Großvater des Religionslehrers den Gottesdienst stets im Stehen - gemeinsam mit anderen Männern im hinteren Teil der Kirche. So war es den Herren möglich, den Gottesdienst nach dem Segen auf kürzestem und schnellstem Wege zu verlassen. Der Frühschoppen war das sich anschließende Ritual. Kirche und Dorfwirtschaft? Die befinden sich vielerorts direkt nebeneinander. In Lehrensteinsfeld war, so muss man inzwischen sagen, die Nähe sogar noch ein bisschen größer als anderswo. Denn hier trägt eine Gaststätte sogar einen Namen mit kirchlichem Bezug: Zur Sakristei.

Wer mit solchen Begriffen weniger bewandert ist: Eine Sakristei ist der Nebenraum einer Kirche, sozusagen ein Vorbereitungsraum, in dem sich Schränke mit den Gewändern des Pfarrers und allerlei Accessoires befinden, die zur Durchführung des Gottesdienstes nötig sind. Wie passt das zu einer Wirtschaft?
"Ha freilich, wegen des Namens haben schon mehr Leute interessiert nachgefragt", berichtet Gerhard Ammüller. Ob des christlichen Bezugs in einer Umgebung, in der man auch zu unchristlichen Zeiten beisammen sitzt, "war aber noch niemand verärgert", ergänzt Ehefrau Renate.
Familie Ammüller gibt es schon lange im Ort
Die 66-Jährige ist für das Gespräch mit dem Stimme-Redakteur bestens vorbereitet. Auf einem karierten Din-A5-Papier stehen eng beschrieben die wichtigsten Stationen der Familien- und der Wirtschaftsgeschichte. "Den Namen Ammüller gibt es seit 175 Jahren in Lehrensteinsfeld", so beginnen ihre Ausführungen. Christian Ammüller hat da das ehemalige Schul- und Pfarrhaus gekauft, das heute ihr Wohnhaus ist und in dem sich im Erdgeschoss die Gaststätte befindet.
Gustav, der jüngste Sohn von Christian Ammüller, habe die Wirtschaft eröffnet, "das muss zwischen 1910 und 1920 gewesen sein", sagt Renate Ammüller. "Die Wirtschaft ist jetzt über 100 Jahre alt unter dem gleichen Namen." Doch eine Sakristei oder eine Kirche, die die kuriose Namensgebung erklären könnten, sind in der Umgebung der Ammüllers nicht zu finden. Nicht mehr.
Am Wehrturm gab es früher Anbauten

Denn das Lehrensteinsfelder Wahrzeichen, der Wehrturm in der Ortsmitte, stand dort früher nicht solitär. An den Turm war in westlicher Richtung ein Kirchenschiff angebaut, das ob des baulichen Zustands zunächst aufgegeben und 1969 abgerissen wurde. Es handelte sich um die Laurentiuskirche.
Anfang des 20. Jahrhunderts baute die evangelische Kirchengemeinde ihre Nachfolgerin, die Christuskirche, allerdings nicht an derselben Stelle, sondern oben beim Schloss. Zurückblieben der Wehrturm und die Wirtschaft "Zur Sakristei", die nun ohne Gotteshaus in der Nachbarschaft auskommen musste.
Auch in Stuttgart gibt es ein Lokal mit diesem Namen

"Seitlich ist es in die Sakristei hineingegangen", berichtet Gerhard Ammüller. Quasi schräg gegenüber vom Hauseingang der Ammüllers. Und so fiel die Wahl auf "Zur Sakristei". "Es ist ein origineller Name", sagt Renate Ammüller nicht ohne Stolz.
Ehemann Gerhard erinnert sich an eine Gaststätte in Stuttgart selben Namens. "Als ich für die WG Wein ausgefahren habe, sind wir dort vorbeigekommen." Und eine kurze Internetrecherche zeigt, die Kneipe in der Nähe des Stuttgarter Marienhospitals gibt es sogar noch.
Dass es rund um den Lehrensteinsfelder Wehrturm einst anders aussah, ist noch an manchen Stellen zu erahnen. Etwa da, wo das Dach des Kirchenschiffs auf die Steine des Turms traf. Auf religiösem Boden zu stehen, ist noch aus einem anderen Umstand ersichtlich. Dort, wo heute der Garten der Ammüllers ist, befand sich einst ein Friedhof. "Da kommen manchmal noch Knochen raus. Als die Straße gemacht wurde, ist deshalb sogar die Polizei gekommen", erzählt Gerhard Ammüller.
Wenn der Gemeinderat zu Gast war...

Seit 46 Jahren führt das Ehepaar die Wirtschaft, die heute nur noch sonntags und nach Vereinbarung geöffnet hat. Früher war häufiger auf, auch freitags oder samstags. Aus gesundheitlichen Gründen ist das nicht mehr möglich, die Arbeit in der Gastronomie schlaucht. "Meine Frau ist sonntags von 7 Uhr morgens bis nachts um 12 beschäftigt", sagt Gerhard Ammüller.
Verwöhnt werden die Gäste, größtenteils Stammgäste, die sich vorab anmelden, etwa mit Zwiebelrostbraten. An aktuell sechs Tischen hat die Gaststätte innen 40 Plätze, der Großteil davon auf gepolsterten Eckbänken. Ein Teil befindet sich im Nebenraum, wo auch ein Klavier steht.
"Früher, als der Gemeinderat nach der Sitzung häufig da war, hat mein Vater darauf gespielt, da ist es 2 oder 3 Uhr geworden", erzählt Gerhard Ammüller und ergänzt. "Wenn die Gäste ihm kein Gehör geschenkt haben, dann wurde er g'scheit narred!" Und womöglich kam es dann zu einem ganz und gar unchristlichen Fluch.
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