Olympia: "In China basiert alles auf Druck"
Heinz Kuttin, Skisprung-Trainer der deutschen Kombinierer, über seine Zeit als Coach der Chinesinnen.

Der Deutsche Skiverband (DSV) hat den österreichischen Skisprungtrainer Heinz Kuttin vor knapp zwei Jahren verpflichtet, um den Kombinierern auf die Sprünge zu helfen - für die steht von Freitag bis Sonntag in Seefeld die Generalprobe für die Olympischen Spiele in China an. Dort war der 51-Jährige von 2018 bis 2020 lang Entwicklungshelfer: als Trainer der chinesischen Skispringerinnen. "Dort basiert alles auf Druck, auf Beförderung, auf dem Bestreben nach einem besseren Lebensstandard", sagt Kuttin kurz vor der Reise zu den Spielen nach Peking.
Wie ist der chinesische Schnee, Herr Kuttin?
Heinz Kuttin: Den kenne ich nicht richtig, ich war in meiner Zeit als Trainer der Chinesinnen nie im Winter drüben. Nur im Sommer in der Skihalle: Dort war der Schnee sehr trocken, sehr pulvrig, sehr kalt.
Und warum betreuen Sie während der Spiele in Peking nicht wie geplant die Skispringerinnen der Gastgeber?
Kuttin: Mein Auftrag war, diese Gruppe Richtung Olympia zu führen - von Europa aus. Ich habe zu Hause in Kärnten ein Konzept gemacht, hauptsächlich von dort mit Lehrgängen versucht, den Skisprungsport in China bei- und voranzubringen. Im zweiten Jahr haben wir gesehen, dass die Meinungen so weit auseinander sind, dass wir uns einvernehmlich getrennt haben.
Weil die Mentalitäten in Europa und China so unterschiedlich sind?
Kuttin: Das auch. Aber die Führung wurde gewechselt, meine unmittelbaren Ansprechpartner. Von mir wurde plötzlich verlangt, dass ich nach China gehe, dort drei Viertel des Jahres verbringe. Ich habe darauf hingewiesen, dass mein Vertrag einen ganz anderen Inhalt hat. So haben wir uns 2020 nach der zweiten Saison getrennt.
Wie haben Sie die Chinesen, mit denen Sie zu tun hatten, erlebt?
Kuttin: Vordergründig sehr freundlich. Am Anfang war das alles sehr angenehm, man hat relativ schnell eine gute Kooperation und freundliche Partnerschaft aufgebaut. Als das System geändert wurde, immer mehr Ideen aus China kamen und weitere Vorgehensweisen vorgeschrieben wurden, war diese Kooperation und Partnerschaft ziemlich schnell gleich null.
Die Chinesen sind sehr ehrgeizig ...
Kuttin: Ehrgeiz, so wie wir ihn in Europa kennen, dass man motiviert ist, dass man etwas unbedingt möchte, ist das überhaupt nicht. Das ist etwas komplett anderes. So wie ich es kennengelernt habe, ist Ehrgeiz in China eher etwas Erzwungenes. Das hat nichts mit Liebe und Leidenschaft für den Sport zu tun. In China basiert alles auf Druck, auf Beförderung, auf dem Bestreben nach einem besseren Lebensstandard.
Haben Sie ein Beispiel?
Kuttin: Die neue Führung hatte verlangt, dass wir viel mehr trainieren als in Europa üblich - weil wir nicht wüssten, was harte Arbeit sei. In China laufe das nun mal so. Solche Begründungen sind immer wieder gekommen.
China hat durchaus Erfolg, ist im Bob und Skeleton immer wieder mal unter den besten Zehn im Weltcup platziert. Warum ist das beim Skispringen so viel mühsamer?
Kuttin: Wir hatten zwei Athletinnen: Li Xueyao war im Weltcup schon 17., die andere Elfte im Sommer-Grand-Prix, riss sich aber bei einem Training in Oberstdorf das Kreuzband. Das waren Ergebnisse, wo man sagen kann: Okay, mit zwei Jahren kontinuierlicher Arbeit ist es möglich, dass wir mit ein, zwei Athletinnen in die Top Ten springen.
Dong Bing und Peng Qingyue haben zuletzt Weltcup-Punkte gesammelt - ist für die Chinesinnen zu Hause eine Überraschung drin?
Kuttin: Keine Chance! Ich habe sie kürzlich in Ramsau springen sehen, als der Weltcup der Skispringerinnen parallel zu unserem stattfand. Li Xueyao springt weit hinterher, wurde 38. in der Qualifikation.
Und bei den Männern?
Kuttin: Die sind noch weiter weg: Wenn man dieses Niveau bei der Vierschanzentournee gesehen hat - und da soll ein Chinese mithalten?
Das geht nicht, weil die alpine und nordische Grundausbildung fehlt?
Kuttin: Ja, wobei das in China absolut im Werden ist. Es wird richtig Gas gegeben, die wollen im Skispringen richtig gut werden. Aber es ist wie überall: Wenn man das über Generationen entwickelt, dann ist etwas drin. Wenn das nicht der Fall ist, tut man sich schwer.
Wie gut ist Ihr Chinesisch, können Sie Cheftrainer Hermann Weinbuch in China etwas dolmetschen?
Kuttin: Nein. Wir hatten damals Dolmetscher dabei, die Deutsch und Englisch gesprochen haben, darunter einen ganz lieben Kollegen, der drei Jahre an der TU München studiert und sogar ein bisschen Bayrisch gesprochen hat. Er hat auch den europäischen Charakter ein bisschen verstanden. Das war sehr wichtig und notwendig.
Die Herausforderung in China ist besonders groß: Die Schanze kennt ja noch niemand. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Kuttin: Wir hatten im Dezember einen Continental-Cup dort, an dem auch Jakob Lange und David Mach, die mit uns trainieren, teilgenommen haben. Natürlich waren auch Trainer der zweiten Mannschaft dabei. Dort haben wir alle Register gezogen, damit wir Erfahrungen sammeln, ein Bild bekommen und die Athleten wissen, welchen Charakter die Schanze hat. Entsprechend haben wir unser Weihnachtstraining auf die Großschanze von Planica verlegt.
Weil die Schanzen ähnlich sind?
Kuttin: Ziemlich, ja. Die Kleinschanze von Peking ähnelt wiederum der in Oberstdorf, wo wir vergangene Woche noch einmal trainiert haben.
Haben auf einer neuen Schanze eher Routiniers wie Eric Frenzel einen Vorteil?
Kuttin: Ja, bestimmt. Aber ein Junger, Freier, Wilder geht auf die Schanze und springt einfach. Grundsätzlich ist wichtig, dass man gut in Form ist, den Hunger, den Biss und das notwendige Wurstigkeitsgefühl hat, um frei zu springen und das Gefühl für die Schanze zu finden. So geht"s am schnellsten.
Kombinierer sind andere Typen als Skispringer, kräftiger. Inwiefern verändert das Ihre Arbeit?
Kuttin: Ein Kombinierer ist von der ganzen Muskelstruktur anders, macht vom Pensum und vom Inhalt ein ganz anderes Training. In meinem ersten Jahr beim DSV ging es darum, dass ich die Charaktere des Kombinierers kennenlerne und die Kombinierer die Charaktere eines Spezialsprungtrainers kennen lernen. Das war für beide neu. Wir haben uns herangetastet. In kleinen Schritten, ohne großartig etwas zu verändern. Im vergangenen Sommer sind wir dann schon stärker in die Sprungstruktur mit ihrer Technik, der Beweglichkeit reingegangen. Über die Technik muss der Sprung besser werden - ohne, dass die Laufleistung darunter leidet.
Ein Spagat ?
Kuttin: ? der uns ganz gut gelungen ist. Wobei wir noch nicht ans Ende der Fahnenstange gekommen sind. Gerade bei den Jungen. Bei ihnen ist mehr Potenzial da als bei den Älteren, weil sie sich mit Neuem leichter tun.
Wie ist der Stand Ihrer Springer?
Kuttin: Wir sind heuer auf der Schanze Minimum eine Klasse stärker, haben super Fortschritte gemacht. Aber ich sehe noch Potenzial bei einigen Athleten, speziell in den Punkten Beweglichkeit und Spritzigkeit - das sind die großen Stärken von Jarl Magnus Riiber.
Ist der Norweger auf den Schanzen von Peking zu knacken?
Kuttin: Er ist im Sommer auf der Schanze noch einmal stärker geworden - phänomenal, wie der Bursche das macht. Es muss einiges zusammenlaufen, um ihn zu schlagen. Wenn wir den Fokus nur auf uns legen, ist es möglich.
Glauben Sie, dass der angekündigte diplomatische Boykott einiger Länder der chinesischen Regierung weh tut?
Kuttin: Das weiß ich nicht, und das interessiert mich auch nicht. Wir sind Trainer, wir sind Sportler und betreiben unseren Sport mit Leidenschaft. Was auf der politischen Weltbühne alles passiert, davon sind wir sehr weit weg. Wir versuchen das Beste für unsere Mannschaft herauszuholen. Für diese Aufgabe brauchen wir all unsere Energie.
Zur Person
Heinz Kuttin war ein ausgezeichneter Skispringer, unter anderem 1991 Weltmeister auf der Normalschanze und holte für Österreich vier Medaillen bei Olympischen Spielen. Von 2014 bis 2018 verantwortete der 51-Jährige als Cheftrainer die Austria-Adler, machte Stefan Kraft 2015 zum Sieger bei der Vierschanzentournee. Seit Sommer 2020 gehört Kuttin als Sprungcoach zum Trainerteam der deutschen Kombinierer. Sein Vertrag läuft bis zum Saisonende, mit Option für ein drittes Jahr. "Von mir gibt es überhaupt keine Überlegungen, diese Option nicht zu ziehen", sagt der Kärtner, der mit seiner Familie in der Nähe des Weißensees wohnt. "Wenn Langlauf-Lehrgänge stattfinden, bin ich nicht dabei", sagt Kuttin, der eine "ganz heimliche Liebe" zum Langlaufen habe.