Georg Hettich und die olympische Magie
Der Nordische Kombinierer aus dem Schwarzwald erlebt am 11. Februar 2006 in Turin den besten Tag seines Lebens und ist noch immer der Typ Ingenieur. Der erste Teil der Winterserie Olympische Momente.

Es ist eine Lawine des Glücks. Hermann Weinbuch, ein mit allen Wassern und Schneeflocken gewaschener ehemaliger Athlet und Meistertrainer der Nordischen Kombination, stürzt im norditalienischen Pragelato einen verschneiten Hang zu Tal und brüllt: "Der Schorsch holt Gold, ich glaub"s nicht!" Den Nachsatz hätte es nicht gebraucht, so fassungslos überrascht springt Weinbuch an diesem 11. Februar 2006 bei den Olympischen Spielen von Turin durch den Schnee, als gelte es den Winter auszutreiben. Hermann Weinbuch will dabei sein, teilhaben am Moment der Erkenntnis des damals 27 Jahre alten Georg Hettich. "20 Meter vor dem Ziel habe ich mich umgedreht und gewusst: Jetzt werde ich gleich Olympiasieger", sagt der Schwarzwälder 16 Jahre später über "den wahrscheinlich besten Tag in meinem Leben". An dem auch eine SMS seiner heutigen Frau Birgit eine Rolle gespielt hat.
Verrückter Tag im Februar

Der Schwarzwälder Georg Hettich ist seinerzeit auf der Schanze und in der Loipe das gewesen, was heute der Allgäuer Karl Geiger im Skisprung ist: besonnen, nicht übertrieben emotional, Typ Ingenieur. An diesem verrückten Februar-Tag spürt Hettich von Beginn an den Flow, wie er erzählt - trotz der Zweifel. Die Strecke ist schwer, für den im Weltcup noch nie siegreichen Mann vom Ski-Team Schonach-Rohrhardsberg zu schwer?
"Du sollst nicht schon vorher nach Entschuldigungen suchen. Wer soll es denn schaffen außer dir?", schreibt ihm seine Freundin Birgit per SMS. "Ja, doch, das war ein Baustein", sagt Georg Hettich. "Sie hat mehr an mich geglaubt als ich selber. Wobei ich wusste, dass ich gut drauf bin." Aber für einen Olympiasieg braucht es den perfekten Tag. Diese olympische Magie.
Die Zehntelsekunde genutzt
Gerade wenn eine Sprungschanze im (Medaillen-)Spiel ist, kann man nichts erzwingen. "Du bereitest dich vier Jahre auf Olympia, diesen einen Höhepunkt, vor und hast dann beim Absprung diese eine Zehntelsekunde", sagt Georg Hettich. Er ist im Einzel auf der Schanze der Beste, auf der Loipe unbezwingbar. Es ist der Wettkampf seines Lebens. Er ist der erste deutsche Olympiasieger in der Nordischen Kombination seit Ulrich Wehling 1980. Und Georg Hettich sagt diesen einen Satz, bei dem es allen TV-Sportlern zu Hause auf der Couch warm ums Herz wird: "Ich dachte, Olympiasieger gibt es nur im Fernsehen, und jetzt bin ich selber einer." Georg Hettich ist sich treu geblieben, ist mit seinen nun 43 Jahren weiterhin der Typ Ingenieur. Dass sie in seinem 4000-Einwohner-Heimatdorf an einem Samstag vor 16 Jahren selig vor Glück "Wir sind Hettich!" gerufen haben, ist ihm nicht zu Kopf gestiegen. Der junge Mann aus dem Schwarzwald mit den fünf Geschwistern hat Medizintechnik studiert, eine Doktor-Arbeit geschrieben und arbeitet heute bei der Tuttlinger Medizintechnikfirma Aesculap, die unter anderem Knie- und Hüftgelenke herstellt.
Papa von zwei Söhnen

"Ich bin für die Sonderanfertigungen zuständig", sagt Georg Hettich am Telefon - er sitzt im Homeoffice, zu Hause im Osten Freiburgs, im 2700 Einwohner großen Stadtteil Kappel. Dort hat er quasi ein Auge auf seine Vergangenheit: Der Sägplatz, wo er als Olympiasieger in einer Kombinierer- und Skispringer-WG gewohnt hat, "ist 500 Meter entfernt". Aus seiner Freundin Birgit Haug ist eine Architektin und Frau Hettich geworden - sie haben zwei Söhne, drei und acht Jahre alt.
Na klar, die Hettichs zieht es nach wie vor in den Schnee. In ein paar Minuten sind sie auf dem Schauinsland oder dem Notschrei. Doch auch im Schwarzwald seien die Winter anders als früher, wärmer, unbeständiger: "Früher haben wir im Dezember die Schanze gerichtet, und dann konnte man vier Monate Skispringen." Das funktioniere heute nicht mehr. "Wenn es Schnee hat, dann muss man rausgehen, die Zeit nutzen."
Die Glückslawine von Pragelato
Ob eines Tages die nächste Hettich-Generation im Wintersport auftaucht? Der Papa sagt: "Mein Älterer hat Skispringen probiert - und schon wieder aufgehört." Alles okay, gerade sei eben einfach eher Leichtathletik und Mountainbiken angesagt. Mit Blick auf den Klimawandel sagt Georg Hettich: "Die Frage ist ja: Wie lange gibt es noch Wintersport?"
Sicher ist: Die Erinnerung an diesen Moment der Erkenntnis, diese Lawine des Glücks von Pragelato hält nicht nur bei ihm ewig.
Drei unterschiedliche Erfahrungen
Georg Hettich war bei drei Olympischen Spielen dabei. 2002 in Salt Lake City gehörte er zum Silber-Team: "Ich war schon überglücklich, mich qualifiziert zu haben." Vier Jahre später wusste er: "Ich kann eine Medaille gewinnen, meine Form war viel besser." Nach dem goldenen 11. Februar folgten Team-Silber sowie Sprint-Bronze. "Die Tage von Turin waren unbeschwert. Gleich am ersten Tag hatte ich alles erreicht." 2010 in Vancouver war Hettich Ersatzmann. "Ich konnte es genießen, es war wie eine kleine Abschiedstour." Kurz darauf beendete er seine Karriere. Ohne Weltcupsieg im Einzel - aber mit Olympiagold. Von 2013 bis 2018 war Hettich als Experte für die ARD im Einsatz.