Wie die Flucht aus der DDR ihre Freundschaft veränderte
Als Helga Wildersinn 1961 aus der DDR floh, wusste sie, dass das eine Entscheidung für ihr Leben war. Sie ließ alles zurück - aber der Kontakt zu ihrer Freundin Isa Herrmann, die in der DDR blieb, hielt. Über eine Brieffreundschaft, die Grenzen überwindet.

Freiheit. Das ist das erste Gefühl, das Helga Wildersinn übermannt, als sie im Zug von Kötzschau nach Wössingen sitzt. Die damals 20-Jährige ist froh. Froh, dass sie endlich in die Tat umgesetzt hat, was sie schon lange vorhatte: die DDR zu verlassen.
Es ist März 1961, fünf Monate vor dem Bau der Berliner Mauer. Helga Wildersinn hat von einer Stunde auf die nächste entschieden, nach Westdeutschland abzuhauen. "Ich wusste, dass es eine Lebensentscheidung war, und dass ich nicht mehr zurückkehren würde", sagt die Seniorin, die heute in Zaberfeld lebt. Wildersinn reist ohne Gepäck, ohne Wechselkleidung, knapp 500 Kilometer zu ihrer Tante, lässt alles zurück - ihre Familie und auch ihre beste Freundin Isa Herrmann.
Ihre Freundschaft über all die Jahre keinen Tag gealtert
Die Freundschaft der beiden Frauen besteht dennoch bis heute. "So etwas gibt es nicht noch einmal", ist Helga Wildersinn überzeugt. "Isa und ich lieben uns alle beide so arg." Mittlerweile sind die beiden Frauen 79 Jahre alt. Ihre Beziehung ist um keinen Tag gealtert, hat Freud und Leid überstanden.
Was müssen Freundschaften mitbringen, damit sie über so lange Zeit bestehen? Ein besonderes Geheimnis gebe es nicht, meint Helga Wildersinn. "Es ist eine Verbundenheit, die man nicht beschreiben kann. Wir sind füreinander da."
Diese Geschichte ist Teil unserer Monatsserie "Zeichen der Liebe". Alle Teile gibt es hier in der Übersicht.
Freundschaft brauche Beständigkeit, will Helga Wildersinn damit sagen. Sie bedauert, dass Werte zunehmend an Bedeutung verlieren. Früher sei man bereit gewesen, für Dinge zu kämpfen, anstatt sie einfach fallen zu lassen.
Wie die lange Brieffreundschaft begann
Helga Wildersinn lässt Kötzschau hinter sich, ohne jemandem Bescheid zu geben. Ihrer Mutter habe sie immer wieder gesagt, dass sie eines Tages fort wolle. Als Helga Wildersinn nicht mehr heimkehrt, zählt ihre Mutter eins und eins zusammen. Isa Herrmann erfährt, dass ihre Freundin bei ihrer Tante in Westdeutschland untergekommen ist und schickt ihr Kleidung nach. Damit beginnt eine lange Brieffreundschaft, die bis heute anhält. Isa Herrmann selbst bleibt in der DDR, in Wallendorf, weil sie ihre Mutter nicht allein lassen will.
„Isa wiederzusehen, ist für mich die größte Freude.“
von Helga Wildersinn
Nach dem Fall der Mauer treffen sich die beiden Freundinnen einmal im Jahr, zum Beispiel dann, wenn sich Helga Wildersinn mit ihrer Schwester wegen Klassentreffen auf den Weg in die alte Heimat macht. "Isa wiederzusehen, ist für mich die größte Freude", sagt sie. Seltener tritt ihre Freundin den Weg nach Süddeutschland an. Helga Wildersinn ist zudem die Reiselustige von den beiden.
Bilder von ihrer besten Freundin hat Helga Wildersinn nicht. Ein gemeinsames Foto zu machen, das haben die beiden Frauen trotz ihrer regelmäßigen Treffen nicht nachgeholt - sich zu sehen, reiche völlig aus, sagt Helga Wildersinn. "Dann erzählen wir wieder von früher - von den ganzen Freunden, die Isa früher gehabt hat", sagt sie lachend.
Die beiden Frauen kennen sich seit dem Kindergarten, gingen in dieselbe Klasse. "Wir haben gern miteinander mit Puppen und Kreiseln oder Ballspiele gespielt", erzählt Wildersinn. Gestritten haben sie sich natürlich auch: Isa habe mal den Kopf ihrer Porzellanpuppe beschädigt. Der Freundschaft habe das aber keinen Abbruch getan.
Als Jugendliche sind sie zum "Schwoofen" gegangen
Im Jugendalter, in den frühen 1950er Jahren, gehen die beiden Frauen zum Tanzen - zum "Schwoofen" wie es im Dialekt heißt - und amüsieren sich zur Musik von Peter Alexander und Elvis. An einem dieser Abende lernte ihre Freundin Isa ihren Mann kennen. "Sie hat schon immer von einem Matrosen geschwärmt. Ich sagte ihr, hier auf dem Flachland kriegst du so einen nicht. Aber der war dann tatsächlich ihr Beuteschema", erzählt Helga Wildersinn lächelnd.

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