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Mit dem Willen einer Kämpferin

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Vorzeitige Plazenta-Ablösung bringt Marie May als Säuglingin höchste Lebensgefahr − Diagnose heute: kerngesund

Von unserer Redakteurin Kirsi-Fee Rexin
Mutter Janine May übt mit Marie das Fahrradfahren, während Vater Matthias mit den Söhnen Maximilian (9) und Moritz (7) Fußball spielt.Foto: Dennis Mugler
Mutter Janine May übt mit Marie das Fahrradfahren, während Vater Matthias mit den Söhnen Maximilian (9) und Moritz (7) Fußball spielt.Foto: Dennis Mugler

Falls das Kind überhaupt überlebt, wird es hochgradig behindert sein." Noch heute hört Janine May die Prognose der Ärzte vor vier Jahren deutlich in ihren Ohren. "Aber daran habe ich nie geglaubt", stellt die 34-Jährige klar und schaut auf das kleine Mädchen mit den blonden Haaren neben sich. Begeistert pinselt Marie blauen, roten und gelben Lidschatten aus ihrer Kinderschminkpalette auf ihre Wange und Nase. Nichts am Verhalten der Vierjährigen erinnert daran, dass ihr Leben einst schon fast zu Ende war, bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Das Überbleibsel, eine lange Narbe an ihrem Bein, wird von der pinkfarbenen Strumpfhose und dem Jeansrock verdeckt.

Versorgung

unterbrochen Im November 2012 besucht Janine May hochschwanger eine Freundin in der Klinik im Plattenwald. Plötzlich spürt sie Flüssigkeit zwischen ihren Beinen. "Zuerst dachte ich: Super, es geht endlich los", erinnert sich May. "Doch auf einmal war da ganz viel Blut." Sie hält inne, schluckt. Die Plazenta hat sich vorzeitig abgelöst, der Stoffwechsel zwischen mütterlichem und kindlichem Kreislauf ist unterbrochen. Die gelernte Orthopädietechnikerin wird sofort in den Kreißsaal gebracht.

"Die Diagnose der vorzeitigen Plazenta-Ablösung bedeutet akute Lebensgefahr für Mutter und Kind", erklärt Professor Peter Ruef, Direktor der SLK-Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Lediglich bei 0,5 bis einem Prozent der Schwangerschaften passiere diese Komplikation. Auslöser könne ein Hämatom sein, das durch Bluthochdruck, vorzeitigen Blasensprung bei Uterus-Anomalien, oder durch ein Trauma, Drogen- oder Nikotinmissbrauch oder wegen hohen Alters der Mutter verursacht werden kann. "Meist kommt es dann zum Not-Kaiserschnitt", so Ruef.

Janine May kommt auf der Intensivstation wieder zu sich. "Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, ob Marie lebt oder tot ist." Erst ihr Mann Matthias überbringt ihr die Nachricht, dass Marie in der Neonatologie-Abteilung am Gesundbrunnen behandelt wird. "Die Therapie hängt von den Befunden ab. Das Spektrum reicht von normaler Versorgung bis hin zu Reanimation", erklärt der Professor.

Im Fall von Marie stellen die Ärzte zahlreiche problematische Diagnosen, unter anderem eine schwere Asphyxie (Kreislaufschwäche und Atemdepression), Blutanämie (Blutmangel), akutes Nierenversagen, Krampfanfälle, muskuläre Hypotonie (Mangel an Muskelstärke und -spannung) sowie Thrombozytopenie (Mangel an Blutplättchen). Während der Vater versucht, einen klaren Kopf zu behalten, flüchtet Janine May in eine Scheinwelt, um die extrem belastende Situation irgendwie auszuhalten.

Kühlbett

Als das Paar sein Baby zum ersten Mal sieht, dürfen sie es nicht berühren oder ansprechen. Es liegt in einer Art Kühlbett, bekommt eine Hypothermie-Behandlung. Dabei wird die Körpertemperatur auf 34 Grad heruntergefahren, damit die Organe unter so wenig Belastung wie möglich arbeiten müssen. Nach einigen Tagen wird die Temperatur stündlich um 0,2 Grad erhöht. Die Werte verbessern sich. Einige Zeit später geschieht das Unglaubliche: Marie bewegt ihren Zeh. Matthias May, der seine Tochter in diesem Moment auf dem Arm hält, ist überwältigt vor Glück. Dann kommt stündlich eine neue kleine Bewegung hinzu, bis Marie schließlich ihre Augen öffnet.

Dankbar

Stück für Stück kämpft sich das kleine Mädchen ins Leben. Mit passiver Krankengymnastik und der Vojta-Therapie wird weiter an ihrer Entwicklung gearbeitet − auch zu Hause. Dabei unterstützen die Brüder Maximilian (9) und Moritz (7) ihre Schwester liebevoll. Heute ist die Vierjährige gesund und ihrem Alter entsprechend entwickelt. "Dass sie es geschafft hat, ist ihrer extremen Willensstärke zu verdanken", sind sich die Eltern sicher. Auch den Ärzten sind sie sehr dankbar. "Wir hatten stets das Gefühl, dass die Leute dort alles gegeben haben, um ihr Leben zu retten."

 

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