Bei Stress einfach mal runterfahren
Warum Sport auch in der Corona-Krise hilft, den Kopf freizukriegen - und was das Gehirn mit einem Muskel gemein hat.
Das Gefühl kennen Leistungssportler ebenso wie Hobbyläufer: wie beim Sport plötzlich alles leicht wird, die Gedanken in den Hintergrund treten und danach der Körper müde, aber der Kopf klar ist. Bewegung, sagt Professor Stefan Schneider, ist für das Gehirn ungefähr das gleiche wie ein Neustart beim Computer: Sie macht den Speicher frei, damit Programme wieder mit voller Leistung laufen können.
Was genau passiert in unserem Gehirn, wenn wir uns bewegen?
Stefan Schneider: Wenn wir über die kurzfristigen Effekte von Sport und Bewegung sprechen, reden wir vor allen Dingen über eine Regulation des Stressniveaus. Wir sind verschiedenen Stressoren unterworfen, und die unterscheiden sich grundsätzlich von denen früherer Generationen: Da war Stress etwas Lebensbedrohendes. Wenn wir heute von Stress sprechen, meinen wir ein Überangebot von Informationen. All das führt zu verstärkter Aktivität in dem Bereich des Gehirns, den wir als frontalen Kortex bezeichnen, wo die exekutiven Funktionen liegen, also Planen und Ausführen. Wir wissen, dass Stress, Depression und Burnout auch damit zu tun haben, dass wir zu viel Informationen verarbeiten und zu viele Dinge gleichzeitig tun müssen. Da kann Sport ein sehr schönes, regulatives Element sein.
Inwiefern?
Schneider: Weil Sport eine andere Gehirnregion benutzt, nämlich den motorischen Kortex. Hier gibt es eine Theorie, die Arne Dietrich Anfang der 2000er Jahre aufgestellt hat - das ist die Theorie der transienten Hypofrontalität. Sie besagt, dass sich die elektrische Aktivität im frontalen Kortex verändert. Denn unser Gehirn ist nur begrenzt multitaskingfähig und muss sich Ressourcen aufteilen. Und während Sport und Bewegung brauche ich Ressourcen hauptsächlich in den Arealen, die Bewegung planen, koordinieren und initiieren. Das ist der motorische Kortex. Dietrichs Idee war, dass es zu einer Verschiebung von Aktivität aus dem frontalen Kortex in den motorischen Kortex während Sport und Bewegung kommt.
Beide Bereiche können also nicht gleichzeitig aktiv sein?
Schneider: Können schon, aber es fordert unheimlich viel Rechenkapazität. Man kann das selber mal probieren: Wenn man laufen geht, in Siebener-Schritten von 1488 rückwärts rechnen. Man wird feststellen, das ist per se schon schwierig, aber wenn man sich intensiv sportlich betätigt, ist es noch viel schwieriger. Evolutionsbiologisch macht das auch Sinn. Nehmen wir eine absolute Stresssituation: Vor 10 000 Jahren begegneten wir einem Säbelzahntiger, und dann war die einzige mögliche Überlebenschance wegzulaufen, das heißt, sämtliche Aktivität in die Gehirnbereiche zu legen, die für Motorik zuständig sind. So bald wir angefangen hätten, darüber nachzudenken, was wir denn jetzt machen sollten, wären wir gefressen worden.
Also eine Kurzschlusshandlung?
Schneider: Nein, keine Kurzschlusshandlung, sondern einfach Ratio ausschalten. Es macht jetzt keinen Sinn, mit dem Säbelzahntiger zu diskutieren. Es kommt zu einer Ausschüttung von Stresshormonen, also Adrenalin und Noradrenalin, die uns zu sehr hoher körperlicher Leistung befähigen, aber nicht dazu, intensiv nachzudenken. Deswegen fällt es Menschen in einer Stresssituation ja auch häufig schwer, einen klaren Gedanken zu fassen - weil uns die Evolution gelehrt hat, bei Stress entweder zu kämpfen oder zu fliehen. Das ist ja heute das Problem, gerade auch in der Coronakrise, dass wir Stress erleben, aber keine Kanalisation des Stresses mehr haben. Genau das liefern uns Sport und Bewegung, weil sie in der Lage sind, Stresshormone, Aggressionen, Wut kurzfristig abzubauen und damit im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf wieder frei zu bekommen.
Das heißt, während der Bewegung kann sich der Bereich, in dem ich denke - der frontale Kortex - regenerieren?
Schneider: Genau, er wird sozusagen abgeschaltet. Ich vergleiche das gerne mit einem Computer. Wenn Sie zu viele Programmfenster offen haben, verliert er irgendwann an Arbeitsleistung. Was man dann immer mal macht, ist, den Rechner runterzufahren. Danach steht dann wieder die gesamte Rechenleistung zur Verfügung.
Funktioniert das mit jeder Art von Sport?
Schneider: Mit jeder Art von Sport, wenn er Spaß macht. Das ist ganz wichtig. Er muss halbwegs intensiv sein, ein bisschen räkeln und strecken hilft da sicherlich nicht. Kinder beispielsweise haben ein grundlegendes Bewegungsbedürfnis. Wenn wir es schaffen, sie zehn, fünfzehn Minuten in einen aktiven Zustand zu versetzen, haben wir häufig genau den Effekt, den Eltern, Lehrer, Erziehungberechtigte auch berichten, nämlich, dass Kinder nach der Bewegung wieder aufnahme- und konzentrationsfähiger sind.
Würde es also Sinn machen, in der großen Pause alle Schüler zweimal um die Aschenbahn zu schicken?
Schneider: Eigentlich ist ja die große Pause tatsächlich als bewegte Pause gedacht. Es ist immer die Frage, was machen die Kinder daraus, beziehungsweise welche Angebote kriegen sie? Ich plädiere zum Beispiel dafür, dass man die Turnhallen aufmacht. Wenn man Kindern Möglichkeiten gibt, sich zu bewegen, nehmen sie diese auch sehr gerne wahr. Wir müssen einfach nur Mittel und Wege finden, diese Bewegungsmöglichkeiten auch anzubieten.
Welche Rolle spielt das Elternhaus?
Schneider: Studien zeigen ganz klar: Kinder sind dann körperlich aktiv, wenn ihre Eltern körperlich aktiv sind. Fernsehen, Computer - das ist gar nicht schlimm. Wir leben in einer Welt, in der digitale Inhalte und Medien einfach präsent sind, und unsere Kinder müssen auch lernen, das zu nutzen. Entscheidend ist die Balance. Wenn ein Kind zwei Stunden Fernsehen schaut, braucht es danach ein ausreichend Maß an Bewegung. Wenn Sie sich einen Hund zulegen, dann wissen Sie, sie sollten dreimal am Tag mit ihm rausgehen. Das können Sie Pi mal Daumen auch auf Kinder anwenden.
Woran misst sich, ob die Bewegung ausreichend ist?
Schneider: Was wir brauchen, ist eine Sensibilisierung dafür, was guttut. Wenn wir beispielsweise Pilgern oder Wandern anschauen - da ist die Intensität nicht groß, aber wenn man sich mit den Menschen unterhält, dann sagen sie, jetzt habe ich den Kopf freibekommen. Andere boxen drei Minuten und berichten über denselben Effekt. Das ist deutlich intensiver, deutlich kürzer auch - aber ich glaube, diese Wahrnehmung brauchen wir: Was Bewegung mit uns macht. Nicht einfach stupide nach Stundenplan vorgehen, sondern tatsächlich fragen, was macht mir Spaß, wobei fühle ich mich nachher wirklich gut? Das heißt auch: Vieles ausprobieren und dann vielleicht sagen, na, joggen ist es nicht, vielleicht doch eher eine Stunde Fitnessstudio.
Jeder muss also selber herausfinden, was für ihn das Richtige ist?
Schneider: Genau. Ich möchte den Menschen mündig machen, ihm erklären, was da neurophysiologisch, aber auch auf einer Verhaltensebene passiert. Natürlich tut Sport erst mal weh, aber wenn man nachher sagt, boah, das hat gutgetan - ja, dann ist es das Richtige. Wenn wir planlos Sport verschreiben, kann er dagegen selbst zum Stressor werden. Davon müssen wir weg. Lieber Bewegung in den Alltag einbauen, mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, Treppen statt Lift. Der Effekt ist zwar stärker, wenn wir uns intensiv anstrengen, aber andere Wege führen auch nach Rom.
Verändert sich dadurch langfristig etwas im Gehirn?
Schneider: Kinder, die sich intensiv bewegen, sind danach aufmerksamer, nehmen dadurch in der Schule mehr Lernstoff auf und werden dadurch auf kognitiver Ebene intelligenter. Sport wirkt da als Mediator mit einem kurzzeitigen Effekt, der eine langfristige Wirkung zeigt. Und wenn ich auf die andere Seite der Lebensspanne schaue: Wir wissen heute, dass Sport und Bewegung in der Lage sind, das Entstehen einer Demenzerkrankung deutlich nach hinten rauszuschieben. Es kommt hier auch zu strukturellen Veränderungen im Gehirn: Der Hypocampus, der für Lernen und die Merkfähigkeit wichtig ist, baut sich nicht ab, sondern wird erhalten.
Ist das eine gesicherte Erkenntnis?
Schneider: Es gibt umfangreich Studien, die zeigen, dass regelmäßige Bewegung ab dem mittleren Lebensalter - das fängt so ab 35, 40 Jahren an - das Risiko, im Alter an einer Demenz zu erkranken, deutlich reduziert. Und wenn Menschen, die am Rande einer Demenzerkrankung stehen, anfangen, intensiv Sport zu treiben, wird das Fortschreiten der Erkrankung positiv beeinflusst. Das konnten wir gerade in einer großen, europaweiten Studie zeigen. Diese positiven Effekte hängen hauptsächlich mit der Verbesserung der körperlichen Fitness zusammen. Menschen, die körperlich fit sind, haben ein höheres körperliches Selbstvertrauen, und damit steigt die soziale Teilhabe. Das größte Risiko für Demenz heute ist ja soziale Isolation.
Dann hat Bewegung auch jenseits vom Sport einen gewissen Effekt?
Schneider: Ja, auf jeden Fall. Wir erkennen Zusammenhänge dadurch, dass wir uns bewegen. Der Bewegungsdrang, den Kinder haben, erklärt sich evolutionsbiologisch darüber, dass sie sich die Welt verfügbar machen wollen. Wir müssen uns bewegen, um zu verstehen: Was ist hinter dem nächsten Berg? Wie funktioniert ein Feuerstein? Das hängt alles mit Bewegung zusammen, dadurch entwickelt sich unser Gehirn. Bei Menschen, die nicht mehr am gesellschaftlichen Leben partizipieren, ist es genau anders herum. Dadurch, dass man sein Gehirn nicht mehr benutzt, verkümmert es. Etwas salopp ausgedrückt, ist es mit dem Hirn wie mit dem Muskel: Wenn Sie einen Gips am Bein haben, dann baut sich der Muskel ab, und wenn Sie Ihr Gehirn nicht mehr nutzen, dann denkt es sich, okay, wenn ich nicht mehr gebraucht werde, dann verschwinde ich halt.
Zur Person

Stefan Schneider forscht unter anderem über die Zusammenhänge zwischen körperlicher und geistiger Aktivität. Er ist Professor am Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft der Deutschen Sporthochschule in Köln sowie Sprecher des Zentrums für integrative Physiologie im Weltraum (ZiP). Außerdem promovierte Schneider in evangelischer Theologie mit einer Arbeit über die "spirituellen Dimensionen sportlicher Aktivität und (neuro-)physiologische Dimensionen christlicher Spiritualität".