Kinder wertschätzen als Lebensaufgabe
Heinrich Schüz prägt die Geschicke der Stadt mit wie sonst nur wenige Bürger. Seit 33 Jahren ist er im Kinderdorf beschäftigt, seit zwölf Jahren sitzt er im Gemeinderat. Ende des Jahres geht er in den Ruhestand.

Er ist fast so etwas wie die graue Eminenz im Bergstädtchen - und das bei Weitem nicht nur der Farbe des Haupthaars wegen. Das freilich war nicht immer so: "Früher war ich auch mal strohblond", schmunzelt der 65-Jährige Kinderdorf-Leiter. Früher - das ist Anfang der 60er-Jahre im Landkreis Reutlingen. Hier wächst der Junge mit dem hellen Haar auf. Ein fürsorgliches Elternhaus. Vier Geschwister, die Mutter Lehrerin, der Vater evangelischer Pfarrer.
Werte als Lebensweg
Selbst Kleriker zu werden? Keine Option für Heinrich: "Bis heute finde ich theologische Diskussionen schrecklich." Die christlichen Werte aber - Familie, soziales Miteinander, Nächstenliebe - nimmt er mit. Zuerst nach Michelfeld und dann nach Hall, wo er sein Abitur macht.
Schüz hat damals ein Hobby, das nicht jeder hat: Als Höhlenforscher kraxelt er durch Hohlräume, die noch nie zuvor ein Mensch betreten hat, watet dort im Tauchanzug durchs Wasser. Aus der Dunkelheit ans Licht - und den richtigen Weg finden: Später, als Pädagoge in der Jugendarbeit, wird er versuchen, junge Menschen genau dabei zu unterstützen.
Vorher noch ein kleiner Umweg: Mathe und Physik. Zwei Semester. Aber schon als Zivi merkt er in einem Heim für Behinderte und psychisch Kranke, was er eigentlich tun will. Dort ist die Verantwortung groß - und der Personalschlüssel klein: Alleine verantwortlich für 40 Personen. "Man hat schnell lernen müssen, die richtigen Worte zu finden." Und Schüz findet sie.
So bleibt die Welt der Zahlen eine Episode. Heinrich studiert lieber Soziale Arbeit. Nach dem Abschluss 1981 reist er durch Amerika und Kanada. Dabei ist eine junge Dame, die schon vorher in sein Leben gestolpert ist. "Sie wollte Musikunterricht von mir. Den hat sie nie bekommen, sondern dafür mich." Zusammen mit Ehefrau Renate kommt er Mitte der Achtziger dann nach Waldenburg. Dort ist gerade die Stelle als stellvertretender Leiter im Albert-Schweitzer-Kinderdorf ausgeschrieben. Schüz kennt sowohl die Stadt auf dem Hügel - als auch das pädagogische Konzept: Fünf Jahre hat er zuvor schon auf der Schwäbischen Alb Jugendliche betreut - und mit ihnen auch im selben Haus gewohnt.
Ermutigung und Wertschätzung als Prinzip
Es sind schwierige Zeiten damals im Kinderdorf. Viele Mitarbeiter sind unzufrieden, fühlen sich nicht wertgeschätzt. Und es sind auch noch andere Zeiten in der Gesellschaft: "Da gab es mancherorts noch die Auffassung, dass körperliche Züchtigung Kindern schon nicht schaden wird", sagt Schüz.
Wertschätzung und Ermutigung - den Heranwachsenden wie auch den Mitarbeitern gegenüber: Das ist Schüz wichtig. Aufgestiegen zum Leiter der Pädagogik managt er in diesem Sinne. Sorgt für die Ausdifferenzierung und personelle Verstärkung des einst ersten Albert-Schweitzer-Kinderdorfs in Deutschland, das heute 150 Mitarbeiter zählt. Und er sorgt dafür, dass den Müttern Erzieher oder Hauswirtschafter zur Seite stehen. "Die leisten alle echte Power-Arbeit."
Die schönsten Momente seiner langjährigen Tätigkeit? Viele seien es gewesen, sagt er. Und wenn sich Momente zu Erfolgsgeschichten verknüpfen, junge Menschen ihren ganz eigenen Weg in eine helle Zukunft finden, freut er sich wie am ersten Tag als Pädagoge. Schüz erzählt von den Kinderdorf-Jugendlichen, die im Zuge einer Gesetzes-Novelle sogar zu einer Anhörung in den Bundestag eingeladen wurden.
Viele Pläne für den Ruhestand
Die Stimme färbt sich hell dabei. Kaum zu glauben, dass sie schon 65 Jahre spricht. Ende dieses Jahres geht der Chef-Pädagoge in den Ruhestand. Und dann? "Ich denke, ich kann mich beschäftigen", lacht Schüz. Denn es gibt noch viele Wege zu beschreiten - für den passionierten Wanderer durchaus auch im Wortsinne -, und Querflöte sowie Trompete wollen ebenfalls mal wieder aus dem Schrank geholt werden.
Und für rege Betätigung sorgt nicht zuletzt auch ein nicht ganz unwichtiges Ehrenamt: das des ersten Bürgermeister-Stellvertreters, das Heinrich Schüz seit der jüngsten Kommunalwahl innehat. Zuvor war er schon fünf Jahre lang der Stellvertreter vom Stellvertreter.
Dass es einige Leute in Waldenburg gibt, die ihm auch eine Kandidatur bei der Bürgermeisterwahl im Oktober zugetraut hätten? Das schmeichelt ihm. "Aber das ist in diesem Lebensabschnitt ausgeschlossen." Unmöglich indes sei nicht, dass er auch 2024 nochmals bei der Wahl zum Gemeinderat antrete. Spätestens dann wäre Schüz wohl doch endgültig zur grauen Eminenz im Städtchen geworden.

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