Streifzug durch die Jahrhunderte in Neuenstadt
Die eigentliche Stadtgeschichte von Neuenstadt beginnt 797. Doch schon weit vorher gab es eine Besiedlung der Gegend. Auch in den Jahrhunderten danach ist einiges passiert: Der Helmbund, Mörike mit oder ohne "c" und Boeuf de Hohenlohe.

Neuenstadt ist eine Stadt mit Geschichte und Geschichten. "Schon 5000 vor Christus lebten an den Brettachhängen Germanen", erzählt Stadtführerin Monika Nüsch. Römer waren einst zwischen Kochertürn, Stein und Bürg heimisch (170 bis 260 n. Chr.) Rund 24 Hektar groß soll die Civitas Aurelia G. − Verwaltungs- und Versorgungslager des Öhringer Limes-Kastells − gewesen sein.
Relikte aus der Frühzeit
Die eigentliche Stadtgeschichte beginnt 797. "Da wird die Helmbund-Siedlung erstmals erwähnt", erzählt Nüsch beim Spaziergang durch die Stadt. Die Ansammlung von Bauernhöfen ist da noch in den Brettach-Auen beheimatet, dort, wo heute die Cleversulzbacher Straße am Sportgelände vorbeiführt. Relikt aus dieser Frühzeit ist die Ruine der Helmbundkirche, die im Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648) zerstört wurde.
Aufgrund wiederkehrender Überschwemmungen ziehen die Bauern so ab 1325 auf den höher gelegenen Felssporn zwischen Brettach und Kocher, in unmittelbare Nähe zum Schloss, das in den Jahrhunderten danach ausgebaut wurde. Es waren die Anfänge der "Neuen Stadt". "Die Blütezeit erlebt Neuenstadt als Residenz der herzoglichen Nebenlinie Württemberg-Neuenstadt von 1650 bis 1742", erzählt Historiker Dr. Jürgen Gysin aus der Epoche, als an der Brettach vier Mühlen existierten und um das Schloss rund 100 Handwerksbetriebe angesiedelt waren.
Der Weg von der Kirchen-Ruine auf der Cleversulzbacher Straße ins Stadtzentrum führt am Schafstall und dem neuen Friedhof vorbei. Der frühere Schafhof (bis 1969) wurde 1990 zum Museum, in dem auch kulturelle Veranstaltungen stattfinden. "Der Friedhof ist eine Stiftung von Otto Bauer aus dem Jahr 1636", weiß Monika Nüsch. "Die einzige Bedingung von Bauer war, der Erste zu sein, der dort beerdigt wird."
Viehmärkte verkauften bis nach Paris

Die Straße endet am Lindenplatz. Wo heute Besucher ihre Autos parken oder an der Bushaltestelle den öffentlichen Nahverkehr nutzen, fanden einst Viehmärkte statt. "Von hier wurden Rinder aus Hohenlohe zu Fuß bis nach Paris getrieben", erzählt Nüsch, dass in Frankreich im 18. Jahrhunderts der Begriff "Boeuf de Hohenlohe" (Rind aus Hohenlohe) geboren wird. "Das Fleisch wurde wegen seiner zarten Marmorierung und des Geschmacks berühmt."
An den Lindenplatz mit seinem viel besungenem Brunnen ("Am Brunnen vor dem Tore", Text: Wilhelm Müller, Melodie: Franz Schubert), der in den 1960er Jahren durch einen neuen ersetzt wurde, grenzt in Richtung Öhringen der Möricke-Stift. Das Anwesen von Apotheker und Doktor Carl Möricke wandelte dessen Witwe Marie 1875 in ein Haus für ledige oder verwitwete evangelische Frauen um. Auf der anderen Seite der Lindenanlage schließt sich das Stadtzentrum an, entlang der ehemaligen Stadtmauer mit dem Torturm, der Schlossanlage, Nikolauskirche, Amtshaus und Mörike-Apotheke.
Dominiert wurde die Lindenanlage − zwischen Torturm, Stadtgraben (heute Freilichtbühne) und Möricke-Stift − einst von der "1000-jährigen Linde" (dreistämmig, Umfang: 13 Meter, Höhe: 30 Meter), die der Stadt den Beinamen "an der Linde" bescherte. "Am 8. und 9. April 1945 wurde Neuenstadt gegen Ende des Zweiten Weltkrieges von den Amerikanern zerstört. Getroffen wurde auch eine der drei stählernen Halte-Trossen der Linde", berichtetet Monika Nüsch. "Seiner Stabilität beraubt fiel der Baum wenig später einem Gewittersturm zum Opfer."
Der Stadtturm wird immer wieder aufgebaut

Zu dem auf 24 Metern gelegenen Rundgang des 37 Meter hohen Stadtturms werden Besucher durch Jörg Oberndörfer geführt. "Der Turm ist anfangs des 14. Jahrhunderts erbaut worden und 1689 bei Sanierungsarbeiten eingestürzt", weiß Oberndörfer zu berichten. "Für einen Wiederaufbau fehlten die finanziellen Mittel." Es wurde Geld gesammelt und mit einem Zins von fünf Prozent angelegt. 14 Jahre später war genug angespart. Der Turm wurde samt einer Türmerwohnung neu aufgebaut.
"1831 wurde der Turm durch einen Brand abermals zerstört. Dem Turmwärter ist es wohl zu kalt gewesen", erzählt Oberndörfer. So ist es zumindest in einem alten Notizbuch nachzulesen: "Den 8. Januar 1831 ist nachts um 9 Uhr der Turm abgebrannt. Durch einen Bakkenstein im Bett, der zu heiß war, kam das Unglück." Selbst die Turmglocken, die auch der Kirche als Geläut dienten, wurden zerstört. Der Wiederaufbau begann diesmal sofort. "Ohne Türmerwohnung", wie Oberndörfer mit einem Grinsen anmerkt.
Die Schlacht am Boyne
Der "Turmherr" verweist beim Abstieg über 112 Stufen auf den Einfluss zweier Neuenstadter Herzöge in Sachen Brexit. 1688 stand Ferdinand Wilhelm in militärischen Diensten Dänemarks und erhielt den Oberbefehl über 7000 Soldaten, die dem englischen König Wilhelm III. von Oranien nach Irland zur Hilfe geschickt wurden. Auch der jüngere Bruder Carl Rudolf beteiligte sich am Feldzug. Die Brüder sorgten für einen erfolgreichen Ausgang der Schlacht am Boyne.
Über den Autor
Alexander Bertok ist Sportredakteur der Heilbronner Stimme und hat bei der Aktion "50 Wochen - 50 Orte" das Los für den Ortsspaziergang in Neuenstadt gezogen. Dahinter steckt die Idee, einen anderen Blick auf die Orte zu bekommen. Zuständig für Neuenstadt ist Redakteurin Katharina Müller.
"Dieser Sieg war von wichtiger Bedeutung", sagt Oberndörfer mit einem augenzwinkernden Blick auf die weitere Geschichte. Die Schlacht legte den Grundstein zur Eroberung Irlands, ohne die es in späterer Zeit nie zum irischen Unabhängigkeitskrieg und Teilungder Insel 1921 in die Republik Irland und Nordirland gekommen wäre. "Die britische EU-Außengrenze zu Irland ist seit Jahren ein Streitpunkt im Brexitverfahren", legt Oberndörfer schmunzelnd nach.
Wie aus Mörike Möricke wurde
Vom Turmausgang bis zur Apotheke sind es nur wenige Meter. Diese wurde in den 1650er Jahren durch Bartholomäus Mörike ("kleine Möhre") aus dem Havelland übernommen. Berühmt wurde Enkel Carl Friedrich Wilhelm Mörike. "Er wurde dank von ihm erfundener blutreinigenden Pillen, den Böppele, steinreich", erzählt Monika Nüsch.
Zwei Generationen später fügte Dr. Carl Abraham Möricke das "c" in den Familiennamen ein. "Um sich von seiner armen Verwandtschaft abzugrenzen", erklärt Monika Nüsch. "Er warf sein Geld mitunter im Wortsinne aus dem Fenster und freute sich diebisch, klopften sich die Kerle unten um die Münzen."
Nach dem Tod von Carl nahm dessen Witwe Marie wieder die ursprüngliche Schreibweise an, lediglich der Möricke-Stift wird noch mit "c" geschrieben. "Die Böppele basierten auf pflanzlicher Basis und wirkten sich anregend auf die Harnproduktion aus", klärt Dr. Christine Hassler, Schwester des aktuellen Apotheken-Inhabers Michael Munding, auf und beruft sich auf die Chronik der Mörike-Apotheke. "Die ganze Stadt profitierte wirtschaftlich davon. Die Böppele wurden hier in Heimarbeit hergestellt."
Ein Lyriker und Dichter im Pfarramt
Zur erwähnten armen Verwandtschaft zählte Vetter und Lyriker Eduard Mörike, der von 1834 bis 1843 das Pfarramt von Cleversulzbach als 34. Geistlicher betrieb, und mit dem Gedicht "in ein freundliches Städtchen tret ich ein?" eine Homage an Neuenstadt schrieb. Als Eduards Mutter Charlotte 1841 in Cleversulzbach verstarb, wurde sie auf dem dortigen Friedhof neben der Mutter des Dichters Friedrich von Schiller beerdigt. Elisabeth Schiller, Schwiegermutter des 29. Pfarrers Johann Gottlieb Frankh, war 1802 im heutigen Ortsteil verstorben.
Zeitleiste Neuenstadt
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797: Erste urkundliche Erwähnung der Helmbund-Siedlung.
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1286: Helmbund wird dem Kloster Schöntal übereignet.
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um 1300: Die Herren von Weinsberg bauen die "niuwe stat zu Helnbünde" neben einer uralten germanischen Gerichtsstätte, der Linde.
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1325: Weinsberger Besitz wird geteilt. In der Region entstehen die Herrschaften: Weinsberg, Scheuerberg, Helmbund. Agnes von Brauneck, Witwe Conrads von Winsperg (Weinsberg), erhält Neuenstadt, Cleversulzbach, Brettach, Gochsen, Kochersteinsfeld und lässt die Schlosskapelle bauen, aus der die Nikolauskirche hervorgeht.
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1450: Durch Verkauf an den Pfalzgrafen bei Rhein wird Neuenstadt samt Dörfer pfälzisch.
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1504: Herzog Ulrich erobert im Landshuter Erbfolgekrieg die Pfälzer Ämter Weinsberg, Neuenstadt und Möckmühl. Neuenstadt wird württembergische Oberamtsstadt.
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1520: Herzog Ulrich wird vertrieben, das Herzogtum Württemberg vom Schwäbischen Bund eingenommen und 1520 an den Habsburger Kaiser Karl V. verkauft, der es den österreichischen Erblanden zuschlägt.
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1525: Bauernkrieg: Die Neuenstadter werden als besonders ungehorsame Untertanen mit der Verdoppelung der Landsteuer und einer Schadensersatzzahlung an den Deutschen Orden wegen Zerstörung der Burg Horneck bestraft.
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1534: Sieg in der Schlacht bei Lauffen: Herzog Ulrich erobert Württemberg zurück.
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1541: Kirchenbezirk Neuenstadt führt die Reformation ein. Das katholische Kloster Schöntal muss die beiden evangelischen Pfarrer, das Pfarrhaus und die Kirche unterhalten.
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1595: Die Stadtkirche wird auf die heutige Größe erweitert. Kloster Schöntal muss die Hälfte der Baukosten bezahlen.
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1596/97: In Neuenstadt grassiert die Pest (200 Tote).
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1634: Nach der verlorenen Schlacht in Nördlingen überschwemmen katholische Truppen Württemberg. Die Ämter Neuenstadt und Weinsberg schenkt der Kaiser dem österreichischen Grafen Maximilian von Tauttmannsdorf.
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1650: Beginn der Residenz der herzoglichen Nebenlinie Württemberg-Neuenstadt.
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1673/78: Franzosenkriege. Neuenstadt wird mehrfach von Truppen besetzt und verheert.
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1742: Mit Herzog Karl Rudolf stirbt die Neuenstadter Nebenlinie aus. Bis 1781 wohnen im Schloss die Töchter von Friedrich August − Eleonore Wilhelmine Charlotte (? 1751) und Friederike (? 1781). Sie ist die letzte, die in der Herzogsgruft unter der Kirche bestattet wird.
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1806: Die seitherigen Oberämter Neuenstadt, Neckarsulm, Gundelsheim, Heuchlingen und Kochendorf werden zum neuen Oberamt Neckarsulm vereinigt.
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1907: Eröffnung der Bahnstrecke Jagstfeld nach Neuenstadt (1913 verlängert bis Ohrnberg, 1993 stillgelegt).
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1945: 2. Weltkrieg: 80-prozentige Zerstörung der Innenstadt am 7./8. April durch Jagdbomber und Artillerie-Beschuss.
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1958: Beginn der Freilichtspiele Neuenstadt.