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„Wir betreten hier Niemandsland"
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Die fast vergessene Gruft unter der Neuenstädter Nikolauskirche

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4 Uhr früh in Neuenstadt: In der Herzogsgruft unter der Nikolauskirche scheint die Zeit seit Jahrhunderten stehen geblieben zu sein. Die Stimme ist in die faszinierende Grablege hinabgestiegen.

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Über diesen Backsteinen wurden zwei Kindersärge eingeschmolzen, heißt es.
Über diesen Backsteinen wurden zwei Kindersärge eingeschmolzen, heißt es.  Foto: Berger, Mario

Dr. Jürgen Gysin rückt das runde Tischchen in der Sakristei der Nikolauskirche von Neuenstadt am Kocher vorsichtig zur Seite. Dann bückt er sich und dreht an einem Knauf. Eine 2,20 Meter auf 60 Zentimeter große Falltüre aus Eichenholz hebt sich – keinesfalls von Geisterhand, sondern nur mit einiger Kraftanstrengung. Durch die schmale Öffnung ist eine Sandsteintreppe zu sehen, ein Metallgeländer und darunter im Halbdunkel drei kleine Särge. Vorsichtig tasten wir uns 15 Stufen hinunter in die Familiengruft der Herzöge von Württemberg-Neuenstadt, einer Nebenlinie des späteren Königshauses von Württemberg.

Historiker Gysin spricht von Niemandsland

„Wir betreten hier Niemandsland", sagt Jürgen Gysin. Der promovierte Historiker, Kirchengemeinderat und Zweite Vorsitzende des örtlichen Vereins für Geschichte und Heimatkunde deutet damit an, dass bis heute nicht eindeutig geklärt sei, wem dieses Gemäuer eigentlich gehört: der Stadt, der Kirche, denen von Württemberg?

„Niemand fühlt sich so richtig zuständig", sagt der 69-Jährige, weshalb die Grablege bei der jüngsten Renovierung der Nikolauskirche 2016 kaum angetastet worden sei. "Wir haben nur die Lüftung verbessert, wegen der hohen Luftfeuchtigkeit", erklärt Gysin.

Wenn die automatische Beleuchtung ausgeht...

Während das Thermometer dieser Frühlingstage nachts wie tags bei zwölf Grad Celsius verharrt und sich im Sommer kaum nach oben bewegt, hat ein vorsintflutliches Hygrometer den Geist aufgegeben. Auch die Zeit scheint hier, drei Meter unter dem Fußboden, stehen geblieben zu sein. Die automatische Beleuchtung, die alle 15 Minuten ausgeht, führt uns vor Augen, dass es anders ist. Die Zeit flieht.

Auffallend viele kleine Schreine für Kinder

Den Beweis liefert das Baujahr: „1664 – Gott allein zur Ehr." So steht es auf der Umrandung einer Öffnung in der Gewölbedecke. Durchmesser: keine 50 Zentimeter. „Das ist das Seelenloch, durch das die Seelen der Verstorbenen in den Himmel aufsteigen konnten", erklärt Gysin mit einem leisen Lächeln. Gerade mal drei Meter hoch, drei Meter breit und sechs Meter lang ist diese sogenannte „Innere Gruft“.

Neben drei Särgen von Erwachsenen birgt sie drei kleine Schreine für Kinder. „Ich habe es schon erlebt, dass Schüler da einen Schock bekamen und die Gruft fluchtartig verließen", berichtet Gysin und schreitet durch einen Verbindungsgang in die „Vordere Gruft“, die nur 2,50 Meter hoch ist, aber sieben auf sieben Meter groß und Platz für zwölf Särge hat. Fast alle sind kunstvoll verziert, tragen Wappen der Ahnen, Porträts der Verstorbenen, Inschriften, Engelchen.

Grablege war lange in Vergessenheit geraten

„FA 1701 HvW" steht Schwarz auf Weiß über einer großen verschlossenen Metalltür, will heißen: Friedrich August von Württemberg hat dieses Gewölbe im Jahre 1701 erbauen lassen. „Hinter der Tür ging es einst weiter hinauf bis zum Altarraum", weiß Gysin. Heute ist davon vom Kirchenraum aus nichts mehr zu sehen. Denn nach dem Tod von Prinzessin Friederica 1781 sei der Zweig deren von Württemberg-Neuenstadt erloschen und der Zugang mit Grabplatten zugemauert worden. Die Grablege geriet in Vergessenheit.

Erst in den 1970er Jahren habe sie der Heimatforscher Eugen Kreß vom Staub der Jahrhunderte befreit, alles erfasst, dokumentiert und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Särge selbst indes blieben über Jahrhunderte hinweg versiegelt, wobei alte Dokumente von einer „Grabschändung“ anno 1706 berichten. Der Türmer und Musiker Franz Dübner habe zwei Kindersärge – über Backsteinen, die noch heute in einer Ecke aufgestapelt sind - eingeschmolzen und das Zinn verkaufen wollen.

Unhold treibt sein Unwesen und wird hingerichtet

Nicht genug: Der Unhold habe sogar den Sarg des Generals und Feldmarschalls Ferdinand Wilhelm (1659-1701) aufgebrochen, aufgeschraubt, „den Körper herumgerissen und aller Orten visitiert" - „wohl auf der Suche nach Orden", mutmaßt Gysin. „Ob er was gefunden hat, weiß ich nicht, aber er wurde auf frischer Tat ertappt." Und: „Der Tod war ihm sicher."

Die meisten Särge wurden seit der Beisetzung nicht geöffnet. Nur einmal drang ein Grabräuber ein.
Fotos: Mario Berger
Die meisten Särge wurden seit der Beisetzung nicht geöffnet. Nur einmal drang ein Grabräuber ein. Fotos: Mario Berger  Foto: Berger, Mario
Fast alle Sarkophage sind kunstvoll verziert, mit Wappen der Ahnen, Porträts der Verstorbenen und Inschriften.
Fast alle Sarkophage sind kunstvoll verziert, mit Wappen der Ahnen, Porträts der Verstorbenen und Inschriften.  Foto: Berger, Mario
 Foto: Berger, Mario
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