Stimme+
Mulfingen
Lesezeichen setzen Merken

In der Krise ein bisschen Struktur: Die St. Josefspflege Mulfingen bietet Kindern und Jugendlichen ein Zuhause auf Zeit

   | 
Lesezeit  3 Min
Erfolgreich kopiert!

Wohngruppe statt Familie: Wer hier einzieht, hat schon einiges hinter sich und steht nun an einem Wendepunkt in seinem Leben.

   | 
Lesezeit  3 Min
Am Abend, wenn es im Haus ruhiger geworden ist, hat Sozialpädagoge Martin Stürzl Zeit für Organisatorisches und Verwaltungsarbeit.
Fotos: Beate Windisch
Am Abend, wenn es im Haus ruhiger geworden ist, hat Sozialpädagoge Martin Stürzl Zeit für Organisatorisches und Verwaltungsarbeit. Fotos: Beate Windisch  Foto: Windisch, Beate

Neun Stühle stehen an dem großen Esstisch. An Tagen wie diesem sind sie auch alle besetzt. Die sechs Zimmer für Kinder und Jugendliche, die hier eine Bleibe auf Zeit gefunden haben, sind belegt. Auch im Notfallzimmer schläft ein Teenager. Selbst im Wohnzimmer wurde ein Bett aufgeschlagen - eine Notlösung erstmal für eine Nacht, sagt Sozialpädagoge Martin Stürzl. Er hat heute 24 Stunden Dienst in dem Haus der St. Josefspflege, das irgendwo in Hohenlohe steht und dessen Adresse aus gutem Grund geheim ist: Hier leben Mädchen und Jungen, die aus ihren Familien herausgeholt wurden, weil das Kindeswohl gefährdet war. Inobhutnahme nennt sich dies offiziell. "Wendepunkt", der Name der kleinen Gruppe, ist zugleich Programm. Wer hier einzieht, steht an einem Wendepunkt in seinem Leben.

Jetzt, um 23 Uhr, ist es still im Haus. Wenn alle in ihrem Zimmer sind, ist Zeit für ein bisschen Verwaltungsarbeit. Der Tag, der hinter Martin Stürzl liegt, war ein bisschen turbulent, aber eigentlich auch wieder ganz normal. Der Achtjährige, derzeit der Jüngste im Haus, hatte sich geärgert und war fast nicht mehr zu beruhigen. Dann kam gegen Mittag noch der Anruf, dass jetzt gleich ein Jugendlicher gebracht wird. Und so ein Einzug, weiß der 46-Jährige, "bringt immer auch Unruhe in die Gruppe".

Gut, dass es dennoch so etwas wie einen Alltag gibt. Eine Mitarbeiterin, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert, war mit der Gruppe Eis essen. Am Abend wurde gemeinsam chinesisch gekocht. Dazwischen wurde am großen Esstisch gespielt. Und natürlich darf jeder ins Büro kommen und in das Regal greifen, in dem Bücher, Spiele und Hörspielkassetten stehen. "Stadt - Land - Fluss" ist derzeit beliebt, auch Monopoly wurde schon stundenlang zusammen gespielt.

Wer hier wohnt, hat Gewalt in der Familie erlebt oder andere große familiäre Probleme

Den "Wendepunkt" gibt es seit 2019. Gedacht ist die Wohngruppe für Acht- bis 18-Jährige. Und sie ist "bunt durchmischt", wie es Stürzl ausdrückt. Wer hier wohnt, hat Gewalt in der Familie erlebt. Oder zu Hause Probleme, die über das normale Maß hinausgehen. Oder ist verhaltensauffällig, schwänzt zum Beispiel regelmäßig die Schule oder ist aggressiv. Oder er ist straffällig geworden. Oder es sind die Eltern, die psychisch krank sind und sich nicht kümmern können. Einmal mussten zwei Schwestern vor einer Zwangsheirat geschützt werden. Ein andermal waren vier Geschwister eingezogen, das jüngste erst sechs, die man aber nicht trennen wollte. Derzeit sind zwei unbegleitete minderjährige Ausländer im Haus, da geht es noch mal um etwas ganz anderes.

Ein Zuhause auf Zeit ist die Wohngruppe. Wer wieder auszieht, kann seinen Fingerabdruck hinterlassen auf dem Baum, den eine ehemalige Bewohnerin gemalt hat.
Ein Zuhause auf Zeit ist die Wohngruppe. Wer wieder auszieht, kann seinen Fingerabdruck hinterlassen auf dem Baum, den eine ehemalige Bewohnerin gemalt hat.  Foto: Windisch, Beate

Die Regeln sind für alle gleich: Die Jüngsten müssen an Schultagen um 19.30 Uhr im Bett liegen, die Älteren um 22.30 Uhr. Wer ein Handy hat, muss es nachts im Büro abgeben. Es gibt einen Plan, wer die Spülmaschine ausräumen, den Müll rausbringen, das Bad putzen oder das Wohnzimmer saugen muss. Wer kann, geht jeden Tag in die Schule. Wer nicht kann, muss dennoch morgens aufstehen und erhält Lernaufgaben für den Vormittag. Die Struktur ist für die Kinder auch ein Anker in der schwierigen Zeit. Die Familie ersetzen können die insgesamt sechs Mitarbeiter - ein Sozialpädagoge, zwei Erzieherinnen, ein Erzieher, eine Heilerziehungspflegerin und eine Auszubildende - natürlich nicht, familienähnliche Strukturen schaffen aber schon.

Ein bisschen Privatsphäre

Dazu gehört auch, dass jeder nach Möglichkeit ein Zimmer für sich alleine hat (und dieses auch abschließen kann!). Ein Bett, ein Tisch, ein Schrank, zwei Regale, ein Nachttisch mit Lampe, eine Pinnwand für Fotos – für mehr ist kein Platz, aber es ist wenigstens ein bisschen Privatsphäre. Bilder hängen nicht an den Wänden, dafür zieht zu oft ein neuer Bewohner ins Zimmer ein.

Die meisten kommen nach einer Entscheidung des Jugendamtes. Dann kann es auch schon mal sein, dass es von der Schule direkt in den "Wendepunkt" geht. Für solche Notfälle gibt es eine kleine Kleiderkammer im Haus. Manchmal klingelt auch nachts das Telefon und die Polizei ruft an, weil ein Jugendlicher nicht mehr nach Hause zurück möchte oder weil an der Autobahn ein minderjähriger Ausländer aufgegriffen wurde.

In dieser Nacht ist es ruhig. Sowohl am Telefon als auch in den Zimmern. Kein Bauchweh, keine schlechten Träume. Dabei sind Schlafstörungen nichts Ungewöhnliches. "Gerade nachts dreht sich bei vielen das Karussell im Kopf", weiß Stürzl aus Erfahrung. Heute Nacht aber bleibt er alleine im Büro, kann die Daten für den neuen Bewohner aufnehmen, einen Blick auf den Dienstplan werfen und die Übergabe für den nächsten Tag vorbereiten. Und dann kann er sich den Rest der Nacht auch selbst hinlegen und schlafen, bevor morgen der nächste turbulente Tag im Haus losgeht.


Die St.Josefspflege

Die St. Josefspflege Mulfingen ist ein kirchlicher Träger der Jugendhilfe. Sie wurde im Jahr 1854 als sogenannte Kinderrettungsanstalt gegründet. Die Wohngruppen und Wohnformen sollen erzieherische Hilfe für Kinder und Jugendliche bieten, die zeitweise nicht in ihrer eigenen Familie bleiben können. Es gibt außerdem Angebote für junge Mütter und für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Eine Wohngruppe richtet sich an Kinder und Jugendliche, die in Obhut genommen werden mussten. Dort bleiben die Kinder für eine Übergangszeit, im Durchschnitt drei Monate, bis sie zum Beispiel in eine stationäre Wohngruppe umziehen können, in der sie langfristig bleiben. In Baden-Württemberg war laut Statistischem Landesamt im vergangenen Jahr in rund 7700 Fällen eine Inobhutnahme notwendig.

 
Kommentar hinzufügen

Kommentare

Neueste zuerst | Älteste zuerst | Beste Bewertung
Keine Kommentare gefunden
  Nach oben