Geheimnisvolle Raunächte in Beilstein
Eine Wanderung durch Weinberge und Wald widmet sich den Bräuchen in der Zeit zwischen den Jahren.

Geister und Menschen. Diese kommen sich besonders nah in den Raunächten zwischen dem 24. Dezember und 6. Januar, sind doch in diesen zwölf Tagen die Schleier zur "Anderswelt" angeblich besonders dünn. So heißt es zumindest. Um die Zeit zwischen den Jahren ranken sich jahrhundertealte Bräuche, Sagen sowie Weissagungen, die größtenteils von den Kelten und Germanen stammen. Und natürlich auch Märchen. Stefanie Keller kennt unzählige davon - und einige werden an diesem späten Nachmittag auch die Teilnehmer der Märchen-Wanderung in den Wäldern und Weinbergen rund um die Burg Hohenbeilstein erfahren.
Das Wetter? Trocken und kalt - aber nicht zu kalt. Zudem sorgt der Sonnenuntergang für eine stimmige Kulisse. "Mit den Raunächten feiern wir auch die Wiedergeburt des Lichtes", führt Stefanie Keller die Tourgänger in die mystische Zeit zum Ende und Beginn eines Jahres ein.

Die 48-Jährige trägt ein bodenlanges, dunkles Gewand aus Filz und einen knorrigen Wanderstab. Auf ihrem Rücken hat sie einen Weidenkorb geschultert, der mit Vogelfedern geschmückt ist. Märchen zu erzählen, ist für die ausgebildete Verlagskauffrau und Schreibtherapeutin aus Bietigheim Beruf und Berufung zugleich. Während der Raunächte ist sie jeden Tag in einer anderen Stadt unterwegs - Beilstein ist zu einem festen Anlaufpunkt in ihrem Kalender geworden.
Wäschewaschen ist tabu
Das liegt vielleicht auch daran, dass sich nur wenig "unwissendes Volk" unter den Teilnehmern befindet. Als es um das Thema Bräuche und Regeln in den Raunächten geht, schnellen gleich mehrere Hände in die Luft. Keine Wäsche dürfe man in dieser Zeit waschen und vor dem Haus aufhängen, weiß ein noch sehr junger Teilnehmer zu berichten.
Weil sich sonst die Geister beziehungsweise Odin mit seinem Wilden Heer darin verfangen könnten. "Aus einem Leinentuch, so hieß es, werde sonst schnell ein Leichentuch", ergänzt Stefanie Keller mit einem Nicken. "Auch Haare und Nägel durften in dieser Zeit nicht geschnitten werden." Ebenfalls tabu: das Zuschlagen von Türen oder das Betätigen eines Spinnrads. "Ich hoffe, Eure Wohnungen sind sauber und rein", sagt die 48-Jährige mit einem Schmunzeln. "Denn Holle mag die Ordnung und bestraft die Faulen."
Märchen als wichtiges Element
Wenn Stefanie Keller zum Thema passende Märchen wie "Frau Holles Apfelgarten" oder "Die drei goldenen Haare" erzählt, greift sie fast auf die komplette Palette an Emotionen zurück. "Es geschah einmal ...", beginnt sie ihre Erzählungen. Die 48-Jährige verändert leicht den Tonfall ihrer Stimme, unterstreicht die Handlung mit Gesten, variiert mit dem Tempo, legt Sprechpausen ein. Die Teilnehmer der Wanderung hängen an ihren Lippen, saugen jedes Wort auf, am Ende jeder Geschichte gibt es Applaus. "Das macht süchtig", gesteht eine Tourgängerin mittleren Alters aus Besigheim, für die es bereits "die siebte oder achte Märchenwanderung" sei.
Vereinzelt leuchten Laternen, Zweige knacken unter den Schuhen, als die Gruppe in der Dämmerung eine der letzten Stationen im Wald ansteuert - einen Holunderbusch. "Dieser galt einst als heiliger und heilender Strauch, in dessen Wurzeln die Erdmutter Holle wohnte." Während sie spricht, gießt die Märchenerzählerin Holundersirup in die Becher der Teilnehmer ein - zum Aufwärmen und Kosten. Früher hätten die Menschen deshalb den Hut gezogen, wenn sie einen solchen Strauch passierten.
13 Wünsche, fordert Stefanie Keller am Ende der Tour die Gruppe auf, solle jeder von ihnen auf Zetteln notieren, in den Raunächten jeden Tag einen von diesen nehmen und verbrennen. "Nur den 13. Wunsch - den müsst Ihr Euch selbst erfüllen." Als sich die Teilnehmer am frühen Abend voneinander verabschieden, haben viele von ihnen ein Lächeln im Gesicht und scheinen - zumindest für den Moment - wunschlos glücklich zu sein.