Stimme+
Heilbronn
Lesezeichen setzen Merken

Das mit dem Sterben passt heute nicht: Rainer Moritz im Literaturhaus Heilbronn

   | 
Lesezeit  3 Min
Erfolgreich kopiert!

Rainer Moritz stellt im Literaturhaus seinen neusten Roman "Das Schloss der Erinnerungen vor".

von Julia Klug
Sehr unterhaltsam, aber mit nachdenklichen Tönen: In einer Lesung im Literaturhaus hat Rainer Moritz am Donnerstag seinen neusten Roman "Das Schloss der Erinnerungen" vorgestellt, der just am selben Tag erschienen ist.
Foto: Mario Berger
Sehr unterhaltsam, aber mit nachdenklichen Tönen: In einer Lesung im Literaturhaus hat Rainer Moritz am Donnerstag seinen neusten Roman "Das Schloss der Erinnerungen" vorgestellt, der just am selben Tag erschienen ist. Foto: Mario Berger  Foto: Berger, Mario

Noch ein Schluck Lemberger, dann kann es losgehen. Rainer Moritz, gebürtiger Heilbronner und Leiter des Hamburger Literaturhauses, ist am Donnerstagabend zu Gast im Literaturhaus Heilbronn, um seinen neuesten Roman "Das Schloss der Erinnerungen" vorzustellen. Ein Heimspiel für den Autor, dessen Mutter quasi ums Eck wohnt.

Ein Glas Lemberger zu einer Lesung, dass sei auch für ihn das erste Mal, bemerkt Moritz lachend im Gespräch mit Literaturhausleiter Anton Knittel. Es dürfte auch der langjährigen Freundschaft zu verdanken sein, dass der Romancier, Literaturkritiker und Kolumnist schon zum zweiten Mal in diesem Jahr hier zu Gast ist. "Es ist wohl am einfachsten, wenn ich vorne beginne", scherzt Moritz am Beginn dieses heiter-familiären Abends, der die Zuhörer in Frankreichs Süden mitnimmt.

Störrisch und neugierig

Dabei quält Moritz" weibliche, 93-jährige Hauptfigur Germaine Durand, die die Zuhörer in den folgenden Kapiteln mit all ihren liebenswerten und schrulligen Eigenheiten kennenlernen dürfen, eine Todessehnsucht. "Ich sterbe, ich sterbe, es ist soweit", sagt sie gleich zu Beginn des Romans, dem ein Motto von E.M. Cioran vorangestellt ist. "Vivre, c'est perdre du terrain" heißt übersetzt so viel wie "Leben, das bedeutet auch, den Boden zu verlieren". Und Germaine Durand, diese störrische, aber auch neugierige alte Dame hat diesen Boden vor vielen Jahren schon verloren. Nach dem Tod ihres Mannes Jean verfällt ihr malerisches Schlösschen mit Blick auf die Pyrenäen mehr und mehr, bis sie es schließlich verkaufen muss.

Dem Leben überdrüssig

Seit acht Jahren schon lebt Germaine zurückgezogen in ihrem Zimmer, dem Leben überdrüssig. Mehr und mehr verstrickt sie sich in Erinnerungen, die zuweilen durcheinander gehen. Unwichtiges taucht auf, Bedeutendes hingegen verschwindet. Und in ihren Gedanken an eine alte, längst vergangenen Zeit spiegeln sich Vergangenheit und Gegenwart, schafft der Autor Bezüge zu Politik, Weltgeschichte, zu Literatur und Kunst. Germaine erhält lebenslanges Wohnrecht, umsorgt vom Personal und den neuen Besitzern, einem deutschen Ehepaar, das die Sommer hier verbringt. Sie alle füllen das Gemäuer mit Leben, an dem Germaine nicht mehr teilnimmt.

 


Mehr zum Thema

Westlich des Schlösschens soll mitten im See bald ein Denkmal für Ludwig Pfau installiert werden. Das Fundament wurde jüngst schon gelegt.
Fotos: Ralf Seidel
Stimme+
Heilbronn
Lesezeichen setzen

Freundeskreis taucht tief in Heilbronner Trappensee-Historie ein


Sterben passt einfach nicht

Und doch halten sie die alte Dame auf Trab, die sich mit vielen, Gästen und Themen auseinander setzen muss. Sie, die sich eine Fistelstimme antrainiert hat wegen einer gewissen Noblesse oder Kaffee zeitlebens ablehnt. Nicht, weil ihr Tee etwa schmeckt, sondern weil sie ihn für das edlere Getränk hält. Doch auch, wenn Germaine es nicht zugeben will, findet sie doch an manchem Gefallen - wie an Western mit John Wayne zum Beispiel. Dass mit dem Sterben passt einfach nicht, auch weil am nächsten Tag die neue Physiotherapeutin kommt.

Mal Witzig, mal ernst

Der Erzählstil ist heiter, mal witzig, mal ernsthaft und mit nachdenklich-melancholischen Tönen. Was ist das, der Sinn des Lebens? Eine Frage, die auch mit 93 Jahren noch nicht leicht zu beantworten ist. Es gibt wunde Punkte in ihrem Leben, über die sie nicht spricht, an die sich sich nicht erinnern will, auch wegen ihrer Gläubigkeit. Nach anderen ist sie geradezu süchtig, den Rückblick auf glorreiche Zeiten im Elternhaus in Paris, als noch alles anders war.

Alles wird in ihrer Erinnerung gespiegelt, einer Mischung aus Geschichte und persönlichem Erleben. Ihre Rolle als Frau in der Gesellschaft, ihre Ehe, sie thematisiert ihre Einsamkeit als Kind und ihre Kinderlosigkeit. Wird sie ihr Zimmer doch nochmal verlassen?

Mit seiner bildhaften Sprache, detaillierten und feinsinnigen Beschreibungen schafft Moritz eine dichte Atmosphäre, die Anton Knittel an französische Filme der 1970er Jahre denken lässt. Moritz verweist auf die Romane von Georges Simenon, die er übersetzt hat und die eine solche Atmosphäre transportieren - für ihn eine Selbstverständlichkeit. "Das sehe ich als die Aufgabe eines Romans an."

 


Zur Person

Rainer Moritz, 1958 in Heilbronn geboren, studiert nach dem Abitur am Robert-Mayer-Gymnasium in Tübingen Germanistik, Philosophie und Romanistik und promoviert mit einer Arbeit über Hermann Lenz. Nach langjähriger Verlagstätigkeit als Cheflektor bei Reclam Leipzig und Programmgeschäftsführer bei Hoffmann Campe übernimmt er 2005 die Leitung des Literaturhauses in Hamburg, wo er auch lebt. Moritz schreibt Literaturkritiken, übersetzt aus dem Französischen, kommentiert das Weltgeschehen in einer Bremen-2-Radiokolumne. Daneben verfasst er Bücher zu den verschiedensten Themen wie Fußball, Schlager oder Richard Yates. Zuletzt erschienen von ihm bei Oktopus der Roman "Als wäre das Leben so" (2021) und "Unbekannte Seiten. Kuriose Literaturgeschichte(n)" (2022).

"Das Schloss der Erinnerungen", 208 Seiten, 20 Euro, ist am 22. September im Kampa Verlag erschienen.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Neueste zuerst | Älteste zuerst | Beste Bewertung
Keine Kommentare gefunden
  Nach oben