Stimme+
Heilbronn
Hinzugefügt. Zur Merkliste Lesezeichen setzen

Forscher in einem weltoffenen Heilbronn

   | 
Lesezeit  3 Min
Erfolgreich kopiert!

Keine Uni, aber viele Pionierleistungen auf wissenschaftlichem Gebiet: Was die Publikationen der Ärzte der Freien Reichsstadt um 1800 über die damaligen gesellschaftlichen Bedingungen verraten.

Gmelin untersuchte die Übertragung von "Lebensenergie" auf den Patienten.
Gmelin untersuchte die Übertragung von "Lebensenergie" auf den Patienten.  Foto: Stadtarchiv Heilbronn

Als Friedrich Schiller mit seiner Frau Charlotte im Sommer 1793 für vier Wochen nach Heilbronn kommt, eilt der Stadt der gute Ruf voraus. Reich ist sie, hübsch, und sie macht von sich reden. Das Selbstbewusstsein zeigt sich damals auch im Umgang mit den Ärzten der Stadt, die selbstbewusst forschen und publizieren. Aufbruchstimmung ist in der Stadt zu spüren - und die Parallelen zum heutigen Heilbronn sind unübersehbar.

Gmelin engagierte sich auf einem umstrittenen Gebiet

Annette Geisler vom Stadtarchiv Heilbronn lässt diese Welt des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts für das Publikum im VHS-Keller am Donnerstagabend aufleben. Heilbronner Ärzte sind das Thema, und Schiller kommt auch wegen eines Arztes, dem vielleicht bekanntesten der Heilbronner Geschichte, Eberhard Gmelin. Dessen Ruf leidet in jenen Jahren, weil er sich intensiv - und wissenschaftlich, wie Geisler betont - mit dem damals bereits umstrittenen Mesmerismus beschäftigt.

Die erste chemische Fabrik Württembergs wurde 1801 in Heilbronn gegründet, die Firma Georg Friedrich Rund. Die Arbeit dort war gesundheitsgefährdend, was der Arzt Louis Bochardt nachwies. Eine Lithografie von 1830.
Fotos: Stadtgalerie Heilbronn
Die erste chemische Fabrik Württembergs wurde 1801 in Heilbronn gegründet, die Firma Georg Friedrich Rund. Die Arbeit dort war gesundheitsgefährdend, was der Arzt Louis Bochardt nachwies. Eine Lithografie von 1830. Fotos: Stadtgalerie Heilbronn  Foto: Stadtarchiv Heilbronn

Dabei wirkt der aus Tübingen stammende Mediziner Gmelin in vielfältiger Weise. Und in Heilbronn trifft er auf einen Stadtrat, der offen für Neues ist. Er beschafft die neuesten Gebärstühle aus Göttingen - "der Stadtrat hat"s bezahlt", wie Annette Geisler betont. Er führt als Stadtarzt um die Jahrhundertwende die Pockenimpfung ein - früher als in vielen anderen Gegenden Deutschlands. Und mutig treibt er weitere Verbesserungen voran, lässt etwa eine Liste von Medikamenten erstellen, die - mit Rezept - auch den Ortsarmen kostenlos zustehen.

Vorbild für Kleists Käthchen in der Krankenbeschreibung

Mit dem Mesmerismus kommt er ab 1787 in Kontakt. Es handelt sich um eine Art Geistheilung, die Energie auf den Patienten überträgt, teilweise in einem "hypnotischen Schlaf". Als einer der ersten setzt Gmelin damals die Hypnose auch ein, um an das Unterbewusstsein der Menschen zu gelangen. Geisler ist überzeugt, dass die von Gmelin beschriebene Krankengeschichte der Heilbronner Kaufmannstochter Charlotte Zobel ein entscheidender Impuls für Heinrich von Kleists Käthchen von Heilbronn ist. Kleist hatte Gmelins Krankengeschichten gelesen. Und so erklärt sich auch, warum das Käthchen aus Heilbronn kommt, wo Kleist sonst doch keinen Bezug zur Stadt hatte.

Der Placebo-Effekt wurde schon in Erwägung gezogen

Auch durch die Auseinandersetzung mit dem Mesmerismus hatte sich Gmelin als einer der ersten mit dem Placebo-Effekt befasst. Er beschreibt als erster das Phänomen einer doppelten Persönlichkeit - und ist damit ein früher Vertreter der späteren Psychoanalyse.

Die Hypnose möchte er zudem zur Schmerzlinderung einsetzen. Auch hier ist er seiner Zeit voraus. Erst 30 Jahre später wird diese Technik in den USA bei Zahnbehandlungen angewendet. Gmelin aber stirbt 1809 nach langer Krankheit im Alter von nur 57 Jahren.

Schillers hartes Urteil über die Stadt

Nicht nur für Gmelins Ideen ist der Stadtrat damals offen. Innovationen werden gefördert, was erfolgreiche Unternehmensgründungen ermöglicht und so auch Geld in die damals noch freie Reichsstadt bringt. "Neidisch wird ihr nachgesagt, hier seien die Hausnummern aus purem Gold", erzählt Annette Geisler.

Das hält Schiller übrigens nicht davon ab, ein schnelles Urteil über die Stadt zu fällen. Teurer als Jena sei Heilbronn und "wissenschaftliches oder Kunstinteresse findet sich blutwenig", schreibt er während seines Aufenthalts. Das stimmt wohl nicht ganz. Obwohl Heilbronn keine Universität, geschweige denn eine medizinische Fakultät hat, herrscht hier ein wissenschaftsfreundliches Klima.

Das spricht sich herum. Der bekannte Arzt Melchior Adam Weikard war bereits Hofarzt der russischen Zarin und Leibarzt des Fürstbischofs von Mainz, als er 1794 in Heilbronn seine Praxis eröffnet. Sein Ansehen war so groß, dass er es sich leisten kann, ein "interessantes Honorarmodell" anzuwenden: Die Armen zahlen nichts, die Reichen nach Belieben.

Verbranntes Tierfett macht schlechte Luft

Er beschreibt auch ausführlich die schlechte Luft in Heilbronn, die in den Wohnstuben nicht zuletzt von den sogenannten Unschlittkerzen herrührt, denen Tierfett als Brennstoff dient. Als einige Jahrzehnte später die Stearinkerze erfunden wird, ist ein Fleiner in Heilbronn einer der ersten in Deutschland, die die Produktion aufnehmen: Michael Münzing. Die Basis für das erfolgreiche Chemieunternehmen ist gelegt.

Mit beschränkter Toleranz

Für Heilbronn noch wichtiger als der berühmte Weikard war Louis Bochardt. Der Arzt aus der Mark Brandenburg praktiziert Ende der 1790er Jahre in Lehrensteinsfeld. Als Jude darf er sich damals nicht in Heilbronn ansiedeln - was nicht gerade für gelebte Toleranz in der Reichsstadt spricht. Bochardt konvertiert 1800 aber zum christlichen Glauben und wird dann auch ohne Weiteres in der Stadt akzeptiert.

Zusammenhänge bei Bleivergiftungen untersucht

Eberhard Gmelin wirkte über wenige Jahre, aber sehr produktiv, in Heilbronn.
Eberhard Gmelin wirkte über wenige Jahre, aber sehr produktiv, in Heilbronn.  Foto: Stadtarchiv Heilbronn

Die Eigentümer der Firma Rund - später bekannt für den anfangs nur nebenbei produzierten Essig - beauftragten Bochardt im Jahre 1811, sich um die Gesundheit der Arbeiter zu kümmern. In der Chemiefabrik wurde damals mit Blei gearbeitet. Die Auswirkungen des hochgiftigen Schwermetalls auf die Gesundheit blieb der Eigentümerfamilie Mertz nicht verborgen. So wird Bochardt zu einem Pionier bei der Erforschung der Bleivergiftung und erkennt beispielsweise die verstärkende Wirkung von Alkohol. Für die - überwiegend weiblichen - Arbeiterinnen erfindet er eine Atemschutzmaske.

Neunter Band der Heilbronner Köpfe

Die Ärzte Bochardt, Weikard und Gmelin sind drei weitere Persönlichkeiten, die in der Reihe "Heilbronner Köpfe" vorgestellt werden. Der neunte Band dieser Reihe wird sich etwas verzögern und erst 2020 erscheinen. Doch Annette Geislers Beitrag steht. Sie ist überzeugt, dass Schillers Urteil über die Stadt nicht korrekt ist, vielmehr das Gegenteil sei der Fall. "Heilbronn ist um das Jahr 1800 eine erstaunlich offene, aufgeschlossene Gesellschaft", davon ist die Autorin überzeugt. Bei der Beschäftigung mit den Ratsprotokollen bekomme man ein Gefühl dafür, "auch wenn das natürlich alles Interpretationen sind", wie sie sagt.

 
Kommentare öffnen
Nach oben  Nach oben