Nicole Deitelhoff ist Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien Globaler Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt. Seit 2016 ist sie Geschäftsführende Direktorin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung, seit 2018 Mitglied des Beirats für Fragen der Inneren Führung des Bundesministeriums für Verteidigung. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf Grundlagen politischer Herrschaft und ihrer Legitimation sowie auf Demokratie und Zusammenhalt in Gesellschaften.
"Der Wunsch nach Abschottung ist für viele eine Bewältigungsstrategie"
Inflation, Migration, Nahost- und Ukrainekrieg: Die Krisen sind groß, doch viele Bürger haben vermeintlich das Vertrauen in die Politik verloren. Nicole Deitelhoff erklärt, was die Bundesregierung falsch macht und wieso ein Frieden in Europa nur mit Russland möglich ist.

Frau Deitelhoff, gerade ist in Österreich die FPÖ stärkste Kraft geworden, in Deutschland feiert die AfD Erfolge. Haben die demokratischen Parteien versagt, die relevanten Konflikte in der Gesellschaft wahrzunehmen?
Nicole Deitelhoff: Ich glaube, Wahrnehmung ist nicht das Problem. Die etablierten Parteien wissen, welche Konflikte relevant sind – beispielsweise der um Migration. Das ist einer, der viele bewegt und wo immer noch so ein Gefühl von Überwältigung ist. Die etablierten Parteien haben das wahrgenommen, aber sie haben es nicht geschafft, zu vermitteln, dass sie wirklich etwas tun, um mit dem Problem umzugehen. Das erzeugt Frust. Dabei passiert einiges: Wenn wir uns beispielsweise die Migrationszahlen anschauen, dann sind sie runtergegangen – nicht rauf, wie viele meinen. Gleichzeitig sind die Abschiebungen nach oben gegangen. Es geht eigentlich alles in die richtige Richtung, aber es kommt bei den Bürgern nicht an.
Warum wird über Migration überhaupt als Problem gesprochen?
Deitelhoff: Die Vermischung von Migration und Konflikt liegt glaube ich daran, dass wir durch eine Vielzahl von Krisen gegangen sind, die nicht aufzuhören scheinen. Es beginnt mit der Finanzkrise, die Pandemie, der Einmarsch von Russland in die Ukraine. In einer solchen Langzeitsituation, in der man aus der Krise überhaupt nicht mehr rauskommt, da wird alles, was von außen kommt, ganz schnell zum Problem. Auch das sehen wir in Ostdeutschland: Der Wunsch der Abschottung nach außen. Es ist nicht nur die Migration, auch die Unterstützung der Ukraine, von der man sich verabschieden will. Der Wunsch, sich zurückzuziehen ist für viele Menschen eine Bewältigungsstrategie.
Inflation, wirtschaftlicher Abschwung, Nahost- und Ukrainekrieg – viele fühlen sich mit der Anzahl der Konflikte überfordert, populistische Parteien bieten vermeintlich einfache Lösungen. Ist Demokratie zu anstrengend geworden?
Deitelhoff: Jede Art von Regierungsform ist in der Krise anstrengend. Wir haben manchmal das Gefühl, dass unsere Demokratie besonders träge ist und lange benötigt, um Entscheidungen zu treffen. Und dann schafft sie es noch nicht mal, sie richtig umzusetzen. Dann schauen wir neidisch auf autokratische Systeme wie China, wo alles schnell geht. Aber wir haben Studien, die immer wieder zeigen, dass autokratische Systeme nicht besser funktionieren und auf lange Sicht volkswirtschaftlich schlechter abschneiden als Demokratien.
Man hat aber den Eindruck, dass das aktuell öffentlich so nicht wahrgenommen wird. Wie vermittelt man wieder das Gefühl, dass Demokratie funktioniert?
Deitelhoff: Eine besonders bedenkliche Entwicklung, die wir zurückdrehen müssen, ist die sogenannte Bazookapolitik. In der Coronapandemie haben wir erlebt, dass der Staat große Hilfsprogramme aufgelegt hat, die dafür sorgen sollten, dass niemand Angst haben müsste, der Staat könne sich nicht um alle kümmern. Das hieß dann Doppelwumms, Bazooka, you-will-never-walk-alone. Und so gut der Ansatz war, Sicherheit zu vermitteln, hat es langfristig etwas anderes getan. Es hat Bürgern das Gefühl vemittelt, dass es gar nicht in ihrer Macht liegt, irgendetwas zu verändern. Sie können nur ein „Pflaster gegen die Schmerzen“ haben, aber das Problem wird sich nicht lösen. Diese Art der Politik kann nur enttäuschen.
Der Anteil in der Bevölkerung, die die Unterstützung für die Ukraine im russischen Angriffskrieg kritisieren, wächst, viele fordern mehr Diplomatie. Sind Verhandlungen mit Putin überhaupt möglich?
Deitelhoff: Die kurze Antwort ist: Ja. Man kann und man wird mit ihm verhandeln müssen. Ist er ein verlässlicher Verhandlungspartner? Nein. Müssen wir damit rechnen, dass er lügen und betrügen wird? Ja. Das ändert aber nichts daran, dass er der Präsident der russischen Föderation ist und damit der einzige Verhandlungspartner, der für die Ukraine infrage kommt. Worauf es ankommt, ist überhaupt erstmal die Bereitschaft dafür zu erzeugen. Ich glaube, da sind wir weiter als die meisten momentan denken. Wenn ich mir die letzten Monate anschaue, dann sehe ich nicht nur auf Seiten der westlichen Unterstützer und der Ukraine selbst immer mehr Gedanken über Friedensverhandlungen, wir sehen das auch auf der russischen Seite.
Den russischen Präsidenten also an den Verhandlungstisch zwingen. Wie soll das gelingen?
Deitelhoff: Wir wissen nicht, wie stark Putin ist. Wir wissen nicht, ob er die Angriffe in der Ostukraine noch jahrelang so weitermachen kann oder ob er kurz vor einer für ihn schmerzhaften Entscheidung wie der Generalmobilmachung steht. Wir können in dieses System nur ungenügend hineinblicken. Es geht darum, ein Gefühl zu erzeugen, dass es sich nicht lohnt, es militärisch weiter zu versuchen. Dass die Kosten den Nutzen übersteigen. Das erreichen wir nur über Druck und das ist das Unangenehme. Wir haben hier zwei Strategien: Sanktionen, das funktioniert nicht besonders gut. Das andere ist der militärische Druck. Zu zeigen: Du hast keine Chance durchzukommen. Das kostet. Diesen Preis zahlen die Ukraine und die Unterstützerstaaten. Und beide Strategien, diplomatische Bemühungen und militärischer Druck müssen gleichzeitig geschehen. Beides beobachten wir meiner Meinung nach verstärkt in diesem Jahr, seit dem Frühjahr ist da viel passiert.
Der ukrainische Präsident wiederum bittet permanent um mehr militärische Unterstützung: Lassen sich Deutschland und die NATO von russischen Drohungen einschüchtern?
Deitelhoff: Jein. Aus meiner Sicht ist in den letzten zweieinhalb Jahren ein Muster zu erkennen, wann Putins Regime Drohungen ausstößt und was daraufhin passiert – nämlich vergleichsweise gar nichts. Die Eskalation findet immer gegenüber der Ukraine statt, aber nie gegenüber der Nato. Von daher könnte man denken, dass der Westen etwas zu zaghaft ist. Was mich wirklich stört, ist, dass die westlichen Unterstützer der Ukraine nicht gestatten, ihre Waffen auf russischem Territorium einzusetzen, um die Abschussbasen der Russen zu zerstören. Das ist wirklich perfide, weil die Russen das einkalkulieren und ihre Abschussbasen genau kurz vor die Reichweite der ukrainischen Waffen setzen und so weiter die Städte kaputtschießen und unglaubliches Leid erzeugen. Das abzulehnen, sollte der Westen zumindest sein lassen.

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