"Zeitenwende" in der Gesellschaft: Wie stehen die Deutschen zur Bundeswehr?
Das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und dem Militär ist in der Bundesrepublik seit jeher kompliziert. Doch das scheint sich jetzt zu ändern. So steht Deutschland zur Bundeswehr.

Das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu ihrer Armee scheint oft distanziert. Als "freundliches Desinteresse" beschrieb 2005 der damalige Bundespräsident Horst Köhler das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Bundeswehr.
Doch 2005 ist lange her, seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine 2022 hat sich vieles verschoben: Der Kanzler spricht von einer "Zeitenwende", Sicherheit und Verteidigung sind wieder an die Spitze der politischen Tagesordnung gerückt. Nahezu permanent diskutieren die USA und die europäischen Partner über das Ausmaß der Ukraine-Hilfe.
Deutschland und die Bundeswehr: Geprägt durch zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert
In anderen europäischen Ländern, beispielsweise Frankreich, hat die Gesellschaft ein anderes Verhältnis zur Armee. Sie ist sichtbarer und selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft. Woran liegt das distanzierte Verhältnis der Deutschen zur Bundeswehr und wie hat es sich in den letzten Jahren verändert?
Durch die deutsche Geschichte, die im letzten Jahrhundert von zwei Weltkriegen und der Nazi-Diktatur geprägt war, hat die Gesellschaft "ein kompliziertes Verhältnis zum Militär als politisches Mittel, vor allem als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik", erklärt Timo Graf, Militärsoziologe am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften in Potsdam. In den 1950er Jahren, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, war die Zustimmung zur Bundeswehr noch nicht hoch, stieg dann aber stetig an. Während des Kalten Krieges wurde sie als "notwendiges Übel" akzeptiert. Mit dem damaligen Grundauftrag, nämlich der Verteidigung gegenüber der Sowjetunion, war die Mehrheit einverstanden.
Verlagerung von Verteidigung hin zu internationalem Konfliktmanagement
Das änderte sich, als sich die Aufgabenschwerpunkte der Bundeswehr auf internationales Krisen- und Konfliktmanagement verlagerten. Mit Beginn der Afghanistan-Einsätze der Truppe Anfang der 2000er Jahre wurde das Meinungsbild zunehmend kritischer.
In repräsentativen Umfragen fällt die Zustimmung zu "traditionellen Aufgaben" wie Landes- oder Bündnisverteidigung weitaus besser aus als die Zustimmung für Einsätze im internationalen Krisenmanagement. Hierzu zählen auch die Einsätze in Mali in Westafrika.
Spannungsfeld zwischen Militär und Gesellschaft: Wie ist das zu lösen?
"Dadurch ist zwischen Bundeswehr und Gesellschaft ein Spannungsfeld entstanden, in dem Bürger die Einsätze der Bundeswehr kritisieren und sich die aktiven Soldaten in ihrer Arbeit nicht wertgeschätzt fühlen", so Timo Graf. Das aufzulösen sei schwierig, notwendig sei aber in jedem Fall mehr direkter Kontakt zwischen Bevölkerung und Bundeswehr.
Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine und der "Zeitenwende" hat sich laut dem Militärsoziologen die Wahrnehmung erneut verschoben: So sei das Vertrauen in die Bundeswehr wieder gewachsen - und gleichzeitig die Akzeptanz für ihren Auftrag, nämlich die Verteidigung des Landes. "Das ist neu und eröffnet aus meiner Sicht Perspektiven für die zivil-militärischen Beziehungen."
Allgemeine Zustimmung in repräsentativen Umfragen – auch zur Wiedereinführung des Wehrdienstes
Das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften führt seit 1996 jedes Jahr eine repräsentative Bevölkerungsbefragung durch. 2023 gaben 86 Prozent der Befragten an, eine positive Einstellung zur Bundeswehr zu haben, nur 11 Prozent waren negativ eingestellt. 52 Prozent sehen die Einführung eines Wehrdienstes als notwendig an und 48 Prozent sind der Auffassung, dass die Wiedereinführung des Wehrdienstes das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Militär verbessern würde.
Schlechtes Image durch schlechte Ausrüstung
Doch diese grundsätzliche Zustimmung schlägt sich nicht in persönlicher Bereitschaft nieder, selbst Soldat zu werden. Das können sich 45 Prozent überhaupt nicht vorstellen, 26 Prozent "eher nicht" und nur 2 Prozent könnten sich das "voll und ganz" vorstellen.
Die Bundeswehr steht in öffentlichen Debatten häufig in Zusammenhang mit schlechter, kaputter und zu wenig Ausrüstung. Dieses Image sieht Timo Graf als einen Grund dafür, dass sich das neue Bewusstsein für Verteidigung nicht in der Arbeitgeberattraktivität der Truppe widerspiegelt.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius prägt Begriff der "Kriegstüchtigkeit" – und setzt Reform in Gang
Wenn es nach Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) geht, muss sich das ändern: Ende Oktober vergangenen Jahres wurde er deutlich und erklärte: Wir müssen kriegstüchtig werden." Damit meinte er Bundeswehr und Gesellschaft. "Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte", erklärte er gegenüber Medien. Im April 2024 stellte Pistorius dann eine ambitionierte Strukturreform vor, die die Bundeswehr entbürokratisieren und flexibler machen soll.
Timo Graf ist zuversichtlich, was die Zukunft der Beziehungen zwischen Militär und Gesellschaft betrifft. Auch die Bereitschaft von Einzelnen, sich für einen Berufsweg innerhalb der Bundeswehr zu entscheiden, wird steigen, meint er. Aber: "Ich glaube, das braucht Zeit."
Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg
1954 endete der Besatzungsstatus Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, 1955 trat die BRD der Nato bei und durfte wieder eigene Streitkräfte aufstellen. Von Anfang an war eine deutsche Armee als Teil der westlichen Verteidigungsallianz vorgesehen.
Seit ihrer Gründung ist die Bundeswehr eine "Parlamentsarmee". Das heißt, der Bundestag besitzt die Budgethoheit und die Kontrolle über die Streitkräfte. Auslandseinsätze sind nur mit Zustimmung des Parlaments möglich und nur für eine Dauer von zwölf Monaten. In Ländern wie Frankreich und den USA ist das anders geregelt. Hier ist der Präsident Oberbefehlshaber der Streitkräfte, die Kommandogewalt liegt bei ihm. Aktuell gibt es in der Bundeswehr rund 184.000 aktive Soldaten, außerdem ist ein Verteidigungsausschuss vorgesehen sowie seit 1956 ein Wehrbeauftragter. Aktuell ist das Eva Högl von der SPD.


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