Gastbeitrag: Die EU lässt Tod und Leid von Geflüchteten zu
Die verheerende Lage vieler Flüchtlinge in der Europäischen Union ist eine politische Entscheidung, sagt Felix Braunsdorf, Referent für Flucht und Vertreibung im deutschen Büro von Ärzte ohne Grenzen. Die EU-Staaten müssten sich endlich zum Völkerrecht bekennen und eine menschenwürdige Aufnahme Geflüchteter organisieren.

Zur Person: Felix Braunsdorf arbeitet seit Januar 2023 als politischer Referent für Flucht und Vertreibung für das Büro von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland. Zuvor war er sieben Jahre lang Referent für Migration und Entwicklung im Referat Globale und Europäische Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Er ist studierter Politik-, Verwaltungs-, und Kommunikationswissenschaftler.

Die Europäische Union könnte mit Menschen auf der Flucht menschlich und solidarisch umgehen. Ein erster Schritt wäre es, innerhalb der EU wieder Europäisches Recht durchzusetzen und illegale Pushbacks, das Zurückdrängen von Schutzsuchenden zu Land und auf See, zu stoppen. Darüber hinaus wäre es wichtig, nicht mit autoritären Regimen zu kooperieren, die Menschen auf der Flucht einsperren, foltern oder umbringen. Das Mittelmeer ist weiterhin die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Allein 2022 starben oder verschwanden laut UN mehr als 1940 Menschen.
Es war eine politische Entscheidung, die staatliche Seenotrettung auf dem Mittelmeer 2014 zu beenden und stattdessen eine libysche Küstenwache aufzurüsten, der Verbindungen zu kriminellen Netzwerken nachgesagt werden. Eben dieser Küstenwache, die Menschen in Not abdrängt und in Libyen in Haftanstalten übergibt, will die EU-Kommission als Reaktion auf das Schiffsunglück Ende Februar 2023 in Kalabrien, das 76 Menschen das Leben kostete, mehr Ausrüstung zukommen lassen. Die EU könnte das Sterben im Mittelmeer jederzeit beenden und mit vereinten Kräften Menschen vor dem Ertrinken retten.
Durch das Ende der staatlichen Seenotrettung entstand eine Lücke, die Ärzte ohne Grenze mit einem eigenen Rettungsschiff zu füllen versucht. Anfang des Jahres hat unser Team etwa die 36-jährige Kamerunerin Christelle aus Seenot gerettet. Ihre Fluchtgeschichte offenbart die tiefen persönlichen Wunden, die die europäische Abschottungspolitik hinterlässt. "Ich lebte in Kousséri, im Norden Kameruns. Auf dem Weg nach Hause von der Arbeit wurde ich von Boko Haram entführt und gegen meinen Willen festgehalten. Ich konnte entkommen", sagt sie. Die Gefahr für ihr Leib und Leben zwang sie dazu, ihre Flucht nach Libyen fortzusetzen. Wegen fehlender legaler Fluchtwege müssen Menschen wie sie auf Schleuser zurückgreifen und zu Fuß in der Dunkelheit die Landesgrenzen passieren.
Rund 50 Millionen Frauen und Mädchen sind auf der Flucht oder leben als Vertriebene. Sie haben andere gesundheitliche Risiken und Bedürfnisse als Männer. "Ich wurde nachts bei der Einreise nach Libyen vergewaltigt", erzählt Christelle weiter. "Außerdem wurde auf uns geschossen. In schierer Panik hat sich die Gruppe zerstreut. Viele haben sich verirrt, hatten alleine keinerlei Orientierung in der Dunkelheit." Heute harren zehntausende Geflüchtete in Libyen aus. Weder die UN noch humanitäre Organisationen haben gesicherten Zugang zu den Menschen. Wer flieht, beschreibt es als Hölle auf Erden.
Wäre Europa menschlich, würden Schutzsuchende so versorgt, wie es medizinisch und psychologisch notwendig ist. Man muss sich vor Augen halten, dass die EU die Wahl hat, solidarisch und im Einklang mit den eigenen und völkerrechtlichen Standards mit Menschen auf der Flucht umzugehen. Das hat der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine bewiesen: Die EU ist fähig, Menschen schnell und unbürokratisch aufzunehmen. Das Sterben von Zehntausenden Menschen im Mittelmeer ist im Ergebnis eine humanitäre Katastrophe, aber vom Ursprung eine politische Wahl.
Genauso ist es eine Entscheidung der EU-Staaten, Geflüchtete in sogenannte geschlossene kontrollierte Zentren auf den griechischen Inseln unterzubringen. Die gefängnisartige Umgebung ist unmenschlich und wirkt sich katastrophal auf die psychische Gesundheit der oft mehrfach traumatisierten Menschen aus. Neben Ärzte ohne Grenzen leisten nur wenige Organisationen dort medizinische Hilfe.
Der vielleicht reichste Kontinent der Erde gibt Milliarden aus, um seine Außengrenzen militärisch aufzurüsten und bezahlt autoritäre Regime, um Menschen auf der Flucht abzuwehren. Gleichzeitig schafft er es nicht, menschenwürdige Aufnahmebedingungen in Europa zu schaffen. Geltendes europäisches Recht oder Völkerrecht scheint vielen Staaten zunehmend egal.
Menschen fliehen; vor bewaffneten Konflikten und Kriegen, vor Naturkatastrophen, vor sexualisierter Gewalt, Erpressung und Bandenkriminalität sowie vor lebensbedrohlichen wirtschaftlichen Konsequenzen der Covid-19-Pandemie und des Klimawandels. Wie die EU damit umgeht, ist eine Entscheidung; für Abschottung, Nationalismus und Wegschauen oder für Menschenrechte, Solidarität und Humanität.
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