Zweite Vorlesung der Bürger-Uni mit Stephan Grünewald
Am Donnerstagabend fand die zweite Vorlesung der neuen Veranstaltungsreihe Bürger-Uni statt. Diplom-Psychologe Stephan Grünewald sprach in der vollbesetzten Aula am Bildungscampus.
Deutschlands freie Gesellschaft ist gefangen. Im Hamsterrad des Lebens, in dem sie täglich bis zur Erschöpfung rennt, sagt Stephan Grünewald. Und der muss es wissen. Für Forschungen des renommierten Rheingold Instituts legte der Diplom-Psychologe rund 5000 Menschen „auf die Couch“, um in zweistündigen Tiefeninterviews herauszufinden, wie sie ticken. Jetzt war der Autor von „Die erschöpfte Gesellschaft“ Referent der zweiten Heilbronner Bürger-Uni.
Vertreibung aus dem letzten Paradies
In seinem Vortrag ging der 55-Jährige zunächst auf die Flüchtlingskrise ein. Vor gut einem Jahr sei die Bundesrepublik „eines der letzten Paradiese“ gewesen, das bei den Leuten die Sehnsucht nach „einer permanenten Gegenwart geweckt“ habe. Personifiziert durch „die deutsche Konstante Angela Merkel, deren Raute das Symbol für die fürsorglich umzäunte Republik gewesen ist.“ Als die aber die Flüchtlinge zu uns bat, avancierte sie „von der Schutzheiligen der Heimat zum Willkommensengel der Fremden. Und ein 80-Millionen-Volk mit ungeheurer Wirtschaftsbilanz bekam Angst vor eineinhalb Millionen Flüchtlingen“. Die Enttäuschung der vermeintlich aus ihrem Paradies vertriebenen Bundesbürger habe zu einer Art Geschwisterrivalität geführt, denn „die Menschen, die kommen haben Qualitäten, die der erschöpften Gesellschaft fehlen“.
Die Asylsuchenden schätzten die Freiheit und stünden für Risikobereitschaft. Demgegenüber stehe die Vollkaskomentalität der Deutschen. Und mit den Kölner Vorfällen in der Silvesternacht sei die Zeit der doppelten Verdrängung – Willkommensromantiker treffen auf Untergangsapologeten – endgültig vorbei. Was fehlt, ist die Lösung des Problems. „Wir müssen uns klar machen, wer wir sind, was wir wollen, und wie wir dies erreichen können“, sagt Grünewald . Und genau da liegt für ihn der Hase im Pfeffer. „Wir haben einen Alltag, der uns daran hindert, darüber nachzudenken was wir tun. Wir leben eine besinnungslose Betriebsamkeit“ – bis zur Erschöpfung. Und die verhindere, „dass wir uns mit den Problemen auseinandersetzen“.
Für Grünewald ist klar, die Deutschen rennen in einem Hamsterrad, das zunehmend dynamisiert werde. „Dem Einzelnen wird per Effizienzdiktat immer mehr aufgebürdet“, was vor allem bei der Arbeit zu einem Paradigmenwechsel geführt habe: „Aus dem Werkstolz ist ein Erschöpfungsstolz geworden. Wenn wir abends fast komatös auf dem Sofa liegen, glauben wir: Wow, heute muss ich aber wahnsinnig produktiv gewesen sein.“ Dazu komme eine Art Erschöpfungskonkurrenz, die dazu führe, „dass Burnout heute fast den Nimbus einer Tapferkeitsmedaille hat. Dabei sind die Aktenberge, die sich auf dem Schreibtisch türmen, nichts anderes als die moderne Form der Hochstapelei“.
Der Mut zum Träumen
Und weil sich das Hamsterrad auch in der Freizeit unerbittlich drehe, „haben die Deutschen das Innehalten verlernt“. Aus der Balance geraten Nach Einschätzung von Grünewald eine gefährliche Entwicklung. Nicht nur, weil Signale des Körpers missachtet werden, sondern vor allem deshalb, weil Erschöpfung der Feind kreativer Ideen und großer Erfindungen sei. „Wir sind eine Gesellschaft, die lieber erschöpft ist als schöpferisch“, so der Referent der zweiten Bürger-Uni . „Wir sind aus der Balance geraten.“ Sein Korrektiv ist das Träumen. „Das ist aber nicht bequem, es ist der Stachel in unserer besinnungslosen Betriebsamkeit.“ Innehalten und Träumen schaffe Ressourcen und bringe eine dringend benötigte neue geistige Wendigkeit. „Das opfern wir aber auf dem Altar der Effizienz.“ Grünewalds Appell: „Wir müssen uns wieder Zeit nehmen für Müßiggang und Genuss. Wir müssen wieder das Land der Denker und Querdenken werden. Also träumen Sie.“
Heilbronner-Stimme-Redakteur und Moderator Tobias Wieland beendete den Abend mit Fragen, die den Bogen von modernen Senioren („Die laufen dem Tod auf Trimmpfaden und dem Jakobsweg davon“), über die Bildungspolitik („Auch sie muss mit Dehnungsfugen arbeiten und nicht nur mit dem Nürnberger Trichter“), bis hin zur Angst der Gesellschaft vor Veränderung spannten. Für deren Überwindung sieht Grünewald nur eine: die Doppelintegration. „Zum einen müssen wir die Flüchtlinge integrieren, zum anderen rund zehn Millionen Deutsche, die sich von der erschöpften Gesellschaft verabschiedet haben.“
Konzept der Bürger-Uni
Bürger-Uni „Neugier. Wissen. Zukunft“, heißt es bei der Bürger-Uni , einer Veranstaltungsreihe in Kooperation von Dieter-Schwarz-Stiftung, German Graduate School of Management an Law (GGS) und Heilbronner Stimme. Auf dem Programm stehen jährlich mindestens drei kostenlose Vorträge, an denen nach Anmeldung rund 550 Besucher teilnehmen können. Gastredner der zweiten Veranstaltung war Diplom-Psychologe und Bestseller-Autor Stephan Grünewald. Der 55-Jährige ist einer der scharfsinnigsten deutschen Gesellschaftsanalytiker. Referent der nächsten Bürger-Uni am 14. Juli ist der österreichische Genetiker Professor Markus Hengstschläger. In seinem Buch „Wir sitzen in der Durchschnittsfalle, Gene – Talente – Chancen“ geht er mit dem Schulsystem ins Gericht. „Wenn wir abends komatös auf dem Sofa liegen, glauben wir: Wow, heute müssen wir wahnsinnig produktiv gewesen sein.“